Mangel an Lehrlingen… aus “Ein Führer für die Wahl des Lebensberufes, 1910″
Mangel an Lehrlingen. Aus: „der goldene Boden des Handwerks und der heutige Handelsstand. Ein Führer für die Wahl des Lebensberufes, 2. Aufl. 1910, S.9 ff
“Seit geraumer Zeit werden aus Handwerkerkreisen lebhafte und begründete Klagen über den mangelnden und den mangelhaften Nachwuchs des Handwerks laut. Andererseits nimmt das so genannte gebildete oder halbgebildete Proletariat in bedrohlicher Weise zu. Die meisten gelehrten Berufe sind überfüllt, zu fast sämtlichen Beamtenstellungen ist der Andrang groß. Das sind Zustände, schreibt eine norddeutsche Handwerkerzeitung, die beinahe krankhaft geworden sind. Die Klagen über die vielerörterte Überbürdung der Zöglinge der höheren Lehranstalten sind zum Teil hierauf zurück zu führen. Hier liegt in manchen Fällen die letzte Ursache der tiefbedauerlichen Schülerselbstmorde. Während früher der Vater den Wunsch hegte, den Sohn werden zu lassen, was er selbst war, möchte er jetzt meist, das der Sohn mehr werde, als er ist, obgleich dieses Mehr vielfach nur scheinbar und tatsächlich ein Minder ist. „Mein Sohn soll es leichter haben als ich“ ist geradezu ein Wort des Tages geworden.
[…] Woher kommt dieses Treiben, dieses Drängen, dieses Sichredenwollen höher hinaus? In vielen Bürgerhäusern ist man von vornherein entschlossen, den Sohn oder die Söhne des Hauses einer so genannten höheren Schule zu übergeben. Die Begabung wird nicht in Betracht gezogen. Wenn der Sohn des Nachbars auf das Gymnasium oder in die Realschule geschickt wird, dann muss auch der eigene Sohn so erzogen werden. Das fordert der falsche Stolz, der dem Geschlechte unserer Tage meist eigen ist. Wie gewaltig der Zudrang zu den Gymnasien du Realschulen ist, das möge aus folgenden wenigen Zahlen erkannt werden. In einem Vororte der Stadt Berlin, in dem vor etwa fünfzehn Jahren nur eine höhere Schule war, während sich jetzt 4 verschiedene dort befinden, sind 43 % (v.H.) sämtlicher Schüler Zöglinge höherer Lehranstalten. Das ist gewiss kein gesundes Verhältnis. Wie ungesund es aber ist, das wird jedem klar werden, wenn er hört, dass in einem der letzten Jahre 39% sämtlicher Schüler der höheren Lehranstalten das Zeugnis der Befähigung für den einjährig freiwilligen Heeresdienst nicht zu erreichen vermöchte.
Es werden also den höheren Schulen sehr viele Knaben zugeführt, die für diese Schule nicht geeignet und nicht befähigt sind. Solche Knaben werden dann von Jahr zu Jahr, von Klasse zu Klasse als schwerer, hindernder Ballast fortgeschleppt. Sie fallen nicht nur den Lehrern, den Eltern, sondern sich selbst zur Last. Sie werden ihres Lebens und ihrer Jugend nicht froh, sondern verkümmern geistig, verblassen seelisch. Entweder sie mühen sich ab ohne Erfolg, sie arbeiten sich mürbe und krank, ohne das Ziel zu erreichen. Oder sie werden, weil sie die Unmöglichkeit der Erfolges merken und ahnen, schließlich stumpfsinnig und trotten durch das Leben ohne bestimmtes Ziel, ohne rechten Halt. (Anmerk.: zu jener Zeit war der freiwillige Wehrdienst über 1 Jahr moralisch obligatorisch. Es war Schande, wer dies nicht tat oder schaffte. In dieser Zeit entstand eine Lücke zwischen allgemein bildender Schule und dem Wehrdienst. Diese wurde durch Sonntagsschulen und Fortbildungsschulen gefüllt, die am Ende zur beruflichen Schule wurde und damit, erst in der Industrie, dann im Handwerk, zur dualen Berufsausbildung führte.)
[…] Verständige Lehrer raten den Eltern, den minder befähigten Sohn von der Schule hinweg und einem anderen Berufe, für den er vielleicht besonders begabt ist, zuzuführen. Nur selten wird dieser Rat befolgt.
[…] Wer zu besonders Großem berufen ist, der findet seinen Pfad, auch wenn dieser ihm von Anfang an nicht gewiesen wird. Dem wirklich Befähigten soll er nicht versperrt und nicht erschwert werden. Er aber solche besondere Befähigung nicht besitzt, der soll nicht auf Bahnen gedrängt, getrieben und geschoben werden, auf denen er nicht weiterkommen kann. Die Eltern, die ihre Kinder so drängen, drücken, schieben und zwingen, versündigen sich an ihnen, sei es aus falscher, kurzsichtiger Liebe, sei es aus kleinem Eigendünkel.
Mangel an Lehrlingen:
Nach wie vor macht sch ein Mangel an Lehrlingen besonders im Handwerk recht fühlbar. Über die Abneigung der jungen Leute, sich für ihren Lebensberuf dem Handwerk zuzuwenden, klagten die Meister öfters bei Besichtigungen sowie in den Sprechstunden. Die Lehrlinge gehen fast nur noch aus den allerärmsten Volksklassen mit der geringsten Schulbildung hervor, während Knaben mit guter Handschrift meistens die Laufbahn als Schreiber dem Lehrlingsstande vorziehen. Haben Sie außerdem noch gute Schulzeugnisse und besitzen die Gewandtheit im Rechnen, so glauben die Eltern den Sohn zu einem höheren Beruf befähigt und lassen ihn oft unter großen Entbehrungen lieber Kaufmann werden oder schicken ihn sogar einige Jahre auf das Gymnasium. Das Vertrauen auf den goldenen Boden des Handwerks ist in den Kreisen, aus denen früher keine ungehörigen hervorgegangen sind, leider Verschwunden, obwohl gerade bei dem großen Mangel an Nachwuchs junge strebsame Handwerker die allerbeste Aussicht auf eine gute Zukunft haben. Viel Schuld tragen die in manchen Blättern immerfort wiederholten Behauptungen, dass das Handwerk seine Berechtigung verloren habe und demnächst ganz von der wachsenden Großindustrie verdrängt werden würde. Diese Behauptung ist durchaus falsch. […] Leider wird den Handwerksmeistern die Ausbildung der Lehrlinge erschwert durch den Geist der Unbotmäßigkeit, der vielfach unter den jungen Leuten herrscht, der leider nicht selten von den Eltern genährt wird.”
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