Abbrüche im dualen Berufsbildungssystem: Üblicher Mismatch oder Matchingproblem?

Abbrüche im dualen Berufsbildungssystem: Üblicher Mismatch oder Matchingproblem?<br><img class="text-align: justify" src="https://bildungswissenschaftler.de/wp-content/uploads/2013/07/theorie_120.png"/><img class="text-align: justify" src="https://bildungswissenschaftler.de/wp-content/uploads/2013/07/praxis_120.png"/>

Vorweg: Wie immer eine Erläuterung.

Es geht in diesem Beitrag nicht darum, dass Aktivitäten außerhalb regulärer, schulischer und dort unterstützender Berufsorientierung, sei es gefördert oder kommerziell, nicht unternommen werden sollen. Es geht darum, ein Bewusstsein zu schaffen, dass die Aktivitäten aufgrund von Annahmen gestaltet werden, die hier näher betrachtet werden und nicht so richtig zusammenpassen. Die Schlüsse daraus darf jeder Leser, jede Leserin selbst ziehen und in ihre Arbeit mit einbeziehen. Eine Empfehlung findet sich am Ende im Fazit. Es folgen nun direkt Kernthesen, mit denen sich Diskussionen und Perspektiven gestalten lassen können. Im Sinne der Sache.

Worum geht es – wieder einmal: Die Nachrichten der letzten Wochen sprechen von sehr hohen Abbrecherzahlen in der dualen Berufsausbildung. Grund genug, sich das einmal genauer anzusehen. Bereits 2014 wurde auf dem Blog ein Beitrag dazu verfasst, der hiermit eine Ergänzung findet..

Kernthesen

  • Die Vertragslösungsquoten sind Folge eines üblichen Mismatch der bei Menschen entsteht, wenn sie für sich wichtige Entscheidungen treffen. Sie sind Folge abstrakter Vorstellungen und kognitiver Verzerrung.
  • Vertragslösungen und Berufsorientierung haben nur einen bedingten Zusammenhang.
  • Steigerungen von Vertragslösungen sind möglich, Senkungen eher nicht.
  • Für eine Steigerung von Vertragslösungen ist die Attraktivität [18] des dualen Berufsbildungssystem verantwortlich und nicht die Lebensrealität von Jugendlichen oder Betrieben.
  • Die Aktivitäten für eine Reduzierung von Abbrüchen orientieren sich an einer fragwürdigen, wenn nicht falschen Grundannahme.

Die Lösungsquoten von neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen werden als Grundlage für Berufsorientierungsmaßnahmen genutzt. Laut dem BIBB-Bericht 2023 für das deutsche Berufsbildungssystem beläuft sich die Gesamtsumme der Zuwendungen für Berufsorientierung auf ca. 393 Mio. € jährlich. Damit bewegt sich die jährliche bundesweite Förderung für Berufsorientierung zwischen ca. 90 bis 400 Mio. €, je nach Förderschwerpunkt, Träger und Förderprogramm [17].
_________________________________________

Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung neu abgeschlossener Ausbildungsverträge in Deutschland der letzten 30 Jahre (1994-2024) Anmerkung: Ein neu begründetes Ausbildungsverhältnis ist Ergebnis eines intrapersonalen Prozesses, der auf ein Ausbildungsangebot passte (Matching)

Ein Klick auf die Grafiken öffnet diese in einem neuen Fenster in voller Auflösung.
Eigene Darstellung: Achim Gilfert 2025

Thesen

  • Die rückläufige Entwicklung der Ausbildungszahlen ist unter anderem auf demografische, technologische und gesellschaftliche Veränderungen sowie ein verändertes Interesse an dualer Ausbildung zurückzuführen.
  • Die Ordnung der Berufe und ihrer Inhalte verallgemeinert sich zunehmend.
  • Die Lehr-, Lern- und Prüfmethoden halten den modernen Technologien (KI) in aktueller Form nicht stand und können zu einer Beschleunigung weiteren Desinteresses führen. Der Tauschwert von Arbeit für die Arbeitnehmenden ist durch den „Beruf“ nicht mehr gegeben.

_________________________________________

Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Vertragslösungsquoten in Deutschland, ebenso für die letzten 30 Jahre

Grafik basierend auf dem Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2024 sowie den BiBB Datensystemen. Eigene Darstellung: Achim Gilfert 2025

Differenzen zwischen Zuständigkeiten wie Handwerk, Industrie, öffentlicher Dienst etc. werden hier nicht berücksichtigt. Die Quoten im Handwerk sind eher höher als der Durchschnitt, die im öffentlichen Dienst geringer.

These:

Die Handwerksbetriebe sind kleiner, den persönlichen Beziehungen wird mehr Augenmerk geschenkt als bei großen Betrieben und es geht vornehmlich um die Ausbildungsinhalte. Bei den großen Betrieben beeinflussen eher Faktoren die Quoten, die nicht mit dem Ausbildungsinhalt selbst zusammenhängen (z.B. Sicherheit, Karrierestufen, Arbeitnehmervertretungen etc.). Die umgangssprachliche Abbruchquote ist eine Vertragslösungsquote.

Vertragslösungen sind Vertragsabbrüche und keine Systemabbrüche. Sie beinhalten:

  • Wechsel von einer Firma zur anderen ohne Gewerk bzw. Berufswechsel (~50%)
  • Wechsel von einem Gewerk (Beruf) zu einem anderen
  • Verlassen des dualen Berufsbildungssystem Richtung Übergangssystem
  • Verlassen des dualen Berufsbildungssystems (z.B. Erwerbsarbeit oder Arbeitslosigkeit)

_________________________________________

Die folgenden drei Grafiken: „Die Entwicklung des Ausbildungsmarktes im Jahr 2023“; BiBB, Fassung vom 13.12.2023, Seite 6, 10 und 16 [1].

Entwicklung von betrieblichen Ausbildungsplätzen und deren Nachfrage, BiBB, Fassung vom 13.12.2023, Seite 6

_________________________________________

Entwicklung der unbesetzten Ausbildungsplätze BiBB, Fassung vom 13.12.2023, Seite 10

_________________________________________

Passungsprobleme, BiBB, Fassung vom 13.12.2023, Seite 16

Thesen

  • Maßnahmen und freie Angebote zur Verbesserung von Matchingprozessen, die stark zugenommen haben (gefördert und kommerzielle Anbieter), scheinen keine Wirkung zu zeigen. Die Zahl der Vertragslösungen bleibt konstant bei gleichzeitiger Reduzierung von neuen Ausbildungsverträgen. Gleichzeitig steigen die nicht besetzten Stellen seit vielen Jahren.
  • Die Passungsprobleme sind regional sehr unterschiedlich, was eben auf ein strukturelles Problem (u.a. regionale Branchenstrukturen, Arbeitslosenquoten, (Formal)Bildungsniveaus etc.) hinweist und nicht auf ein Persönliches Problem.
  • Fördermittelempfänger haben ein Interesse an der Kommunikation hoher Abbruchszahlen.

_________________________________________

Zum Vergleich und zur Stützung der Thesen zu der Höhe von Vertragslösungen von neu geschlossenen Ausbildungsverträgen: Abbrüche von Bachelorstudiengängen (Erststudium)

Eigene Darstellung: Achim Gilfert 2025

_________________________________________

Fazit

Eine der wesentlichen Fragen, die diese Recherche aufwirft, ist aus welchem Grund die Lösungsquote von Ausbildungsverträgen als Grundlage für geförderte Maßnahmen oder auch kommerzielle Angebote für besseres Matching dienen. Ganze App Entwicklungen stützen sich darauf, wie auch Förderprojekte mit 6-stelligen Fördersummen. Gleichzeitig lässt sich über die Zeit verfolgen, dass wiederkehrend eine stark steigende Abbrecherquote kommuniziert wird, auch wenn das in dieser Ausprägung nicht stattfindet. Ist das jetzt eine Hysterie? Ich denke das ist es nicht, sondern es ist eher ein Group-Think-Mechanismus, der hierzu führt.

➡️ „Ich möchte den Sachverhalt an einem anderen Beispiel erläutern: Stellen Sie sich einen Urlaubsort mit Namen XX vor. Es gibt 100 Hotels mit zusammen 1000 Betten. Wie immer zum Sommer sind die Betten gut gebucht. Aber ca. 280 Gästen gefallen die Zimmer in dem gebuchten Hotel nicht und sie checken wieder aus. Dennoch, am Ende der ersten Ferienwoche finden die meisten der Gäste aber ein angenehmes Zimmer in einem anderen Hotel am Ort XX. Um die 70 Gäste allerdings, finden nur eine für sie schöne Herberge im Nachbarort YY und 20 Gäste haben sich entschieden, lieber den Urlaub abzubrechen und wieder nach Hause zu fahren. Die Stadträte der Orte XX und YY entwickeln nun Projekte, die beide Orte finanzieren müssen, weil bei 280 von 1000 Gästen ihre Hotel- und Bettenwahl nicht passend war und sie die Buchung storniert haben. Das Ziel der Projekte soll sein, dass die Feriengäste und die Hotels besser und passender zusammenfinden. Niemand wiederspricht, denn das Projektgeld kommt in den Urlaubsorten an. Das so viele Gäste ihre Buchung wieder stornieren ist negativ, weshalb die Projekte als positiv angesehen werden können. Obwohl die Zahlen dezidiert verfügbar sind, spricht aber keiner aus, dass sich am Ende nur 20 Gäste entschieden haben, nicht mehr an den Urlaubsorten zu buchen. 20 von 1000 Gästen.
❓ Die Frage ist nun, welche „Problemgröße“ die Grundlage für eine Förderung von Projekten darstellen? Sind es wirklich die 280 Gäste oder sind es die 20 Gäste?
Ich bin sehr für Projekte, die sich auf die 20 Gäste beziehen um hier effizenter zu sein. Das ist mir wichtig zu betonen.

Welche Zahlen könnten denn nun zugrunde gelegt werden, um dieses Problem zu lösen? Datentechnisch werden Firmenwechsel und auch Berufswechsel – ja sogar Systemwechsel erfasst und können somit auch ausgewertet werden. Als Grundlage für Maßnahmen wären diese Zahlen deutlich aussagekräftiger, vor allem wenn die Maßnahmen mit Wirkanalysen versehen würden. Ich habe auch eine ganz persönliche Perspektive auf die Umstände. Eine davon ist, dass das duale Berufsbildungssystem unter allen Umständen gestützt werden soll, auch wenn sich die Grundannahmen und Rahmenbedingungen, in denen es eingebettet ist, deutlich geändert haben. Die Idee, für Betriebe und Arbeitnehmer einen Tauschwert seiner Arbeit über einen geordneten Beruf zu erreichen, ist allein durch die technologische Entwicklung und die starke Komplexität und Ausdifferenzierung von Technologie nicht mehr zu halten.

Ich tue mich schwer damit, dass das System als unverrückbares Element die Schuld an dessen Schwächung auf die Jugendlichen abwälzt. Die Betriebe sind dabei in einem Spannungsfeld – einerseits, weil sie ebenso Schuldfragen aufwerfen, selbst aber gleichermaßen in die Situation als Betroffene und Mitverursacher kommen.

Ein Beitrag aus dem Jahre 2018 auf diesem Blog beschäftigte sich mit diesem Thema bereits. Wenn Sie Interesse haben, lesen Sie gerne den Beitrag: „Dient uns das duale Ausbildungssystem noch? Oder wir dem System? – Der Versuch einer Einordnung“.

Meine Empfehlung, duale Berufsausbildung zu stärken, ist in einem ersten Schritt die Abkehr von Zertifikaten und auf die Anerkennung von Kompetenzen zu setzen. Lehr- und Lernmethoden zu nutzten, die (wie in der Hochschulbildung) auch KI-Systeme einsetzen, um multiperspektivisch zu Erkenntnissen zu gelangen, anstelle sie sich hineinzuschaufeln und wiederzugeben. Mit modernen Lehrmethoden können sogar Prüfungen überflüssig werden, weil die Lernprozesse selbst durch ein Gelingen Kompetenzen nachweisen können. Hierzu ist allerdings das etablierte System ernsthaft in Frage zu stellen und, unabhängig der Lerninhalte, an den Rahmen- und Randbedingungen zu arbeiten, die konsequent kompetenzorientiertes Lernen auch mit Einbezug konnektivistischer Lerntheorien ermöglichen kann.

Die Wunsch, dass damit Elfenbeintürme abgebaut werden können, wird dabei aber ein Wunsch bleiben – enteggen den Beteuerungen derer, die sich als Systembewahrer sehen.
_________________________________________

Wer Interesse an Themen rund um diesen Blog hat, dem empfehle ich mein Buch „Theorie und Praxis im deutschen Bildungssystem“. Das ist ein unterhaltsames Buch aus der Praxis und zeigt die Spannungsfelder in der allgemeinen und beruflichen Bildung im Alltag aus. Klicken Sie gerne auf das Banner.

__________________________________________

Quellen

[1] Die Entwicklung des Ausbildungsmarktes im Jahr 2023 https://www.bibb.de/dokumente/pdf/a11_entwicklung_ausbildungsmarkt_2023_4.pdf sowie BMBF https://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/K245.html
[2] Anzahl Auszubildende Deutschland| Statista https://de.statista.com/statistik/daten/studie/156916/umfrage/anzahl-der-auszubildenden-in-deutschland-seit-1950/
[3] Unterrichtung https://dserver.bundestag.de/btd/13/013/1301300.pdf
[4] Tabelle 2.4.29 – Datenportal des BMFTR https://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/Tabelle-2.4.29.html
[5] Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt: Daten, Zahlen, Fakten https://www.bpb.de/themen/arbeit/arbeitsmarktpolitik/317172/die-lage-auf-dem-ausbildungsmarkt-daten-zahlen-fakten/
[6] Datenreport / A5.2 Gesamtbestand der … https://www.bibb.de/datenreport/de/2018/86929.php
[7] Situation am Ausbildungsmarkt 2023/24 https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Statischer-Content/Statistiken/Fachstatistiken/Ausbildungsmarkt/Generische-Publikationen/AM-kompakt-Situation-Ausbildungsmarkt.pdf
[8] Handwerk – Lehrlingsbestand in Deutschland bis 2024 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/30524/umfrage/lehrlingsbestand-im-handwerk-in-deutschland-seit-1990/
[9] Tabelle 2.4.28 – Datenportal des BMFTR https://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/Tabelle-2.4.28.html
[10] Die Entwicklung der beruflichen Ausbildung von 1900 bis … https://www.bibb.de/dienst/publikationen/de/download/18079
[11] Entwicklung der tariflichen Ausbildungsvergütungen von 1976 … https://www.bwp-zeitschrift.de/de/bwp.php/de/publication/download/594
[12] Ausbildungsberufe in Deutschland bis 2023 – Statista https://de.statista.com/statistik/daten/studie/156901/umfrage/ausbildungsberufe-in-deutschland/
[13] [PDF] Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2023 https://www.bibb.de/dokumente/pdf/bibb_datenreport_2023_korr_11102023.pdf
[14] [PDF] Monitor Ausbildungschancen 2023 – Bertelsmann Stiftung https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Gesamtbericht_Monitor_Ausbildungschancen2023_D.pdf
[15] Berufliche Bildung – Statistisches Bundesamt https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Berufliche-Bildung/_inhalt.html
[16] [PDF] Ausbildungsreport 2023 – Hamburger Institut für Berufliche Bildung https://hibb.hamburg.de/wp-content/uploads/sites/33/2023/10/0155_HBB_Ausbildungsreport_2023_web_einzeln.pdf
[17] https://www.govet.international/dokumente/pdf/Berufsorientierung_im_deutschen_Berufsbildungssystem_GOVET_2025_DE.pdf?utm_source=chatgpt.com
[18] Mit Attraktivität ist nicht das „Schönreden“ gemeint, sondern eine strukturelle Attraktivität des dualen Berufsbildungssystems in der Gesellschaft.

Informationen zu den Gründen für Abbrüche finden sich hier: https://bildungswissenschaftler.de/seit-ueber-29-jahren-keine-reduzierung-der-ausbildungsabbrueche/

©2025 Achim Gilfert. Dieser Beitrag ist zur Weiterverbreitung nach den in diesem Blog veröffentlichten Regeln zum Urheberrecht veröffentlicht. Diese Regeln finden Sie hier: Urheberrechtshinweise.

2 Kommentare zu „Abbrüche im dualen Berufsbildungssystem: Üblicher Mismatch oder Matchingproblem?

  1. Vielen Dank für die Zusammenstellung. Wenn ich diese richtig verstehe, dann bezieht sich die Analyse auf den Bereich der dualen Ausbildung, nicht auf die schulische Ausbildung und die Ausbildung im öffentlichen Dienst und spezifischer Branchen/Berufe? Gibt es denn qualitative empirische Studien (Interviews mit Abbrechern/Arbeitgebern o. ä.) zum Studienabbruch und ob anschließend in eine andere Ausbildung, einen anderen Ausbildungsbetrieb usw. gewechselt wird?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.