Heilsbringer Studium – Konsequenzen und Risiken
Dieser Beitrag ist spannend. Die zu Wort kommenden Autoren und Wissenschaftler machen mit deutlichen Worten auf mögliche Schwierigkeiten bei dem Thema aufmerksam. Es gibt sicher die eine oder andere Aussage, die als zu absolut empfunden werden kann. Dennoch sollten sie im Kontext berücksichtigt werden. Jahrgangs- und klassenweise versuchen die Jugendlichen an höhere Schulabschlüsse zu gelangen und scheitern daran nur allzu oft. Die Zahlen dazu variieren, werden jedoch immer mit über 60 % angegeben. Ein Beispiel: Von einer Hauptschulklasse (10) in Hagen mit 28 Schülern gehen zwei Schüler in eine duale Berufsausbildung, und einige wandern aus verschiedenen Gründen in berufsvorbereitende Maßnahmen oder Initiativen zur Herstellung von Ausbildungsreife. Der Rest versucht, einen höheren Schulabschluss zu erreichen, um entweder studieren zu können oder aber eine Ausbildung in einem Beruf aufzunehmen, welcher betriebsseitig (vermeintlich) für diese Schüler verschlossen ist. Der größte Teil (wir haben in Hagen erheben können, dass es mehr als 70 % sind) scheitert bei den Bemühungen, einen höheren Schulabschluss zu erreichen. In Folge haben diese Kinder dann schlechtere Noten, stehen mit den aktuellen Marktbewerbern in Konkurrenz und tragen eine Stigmatisierung mit sich (Versager, Gescheiterter). Meist stehen dann geförderte Bildungsmaßnahmen der Agenturen für Arbeit an. Mit all ihren Konsequenzen, über die in vielen Beiträgen in diesem Blog berichtet wird.
Warum alle studieren möchten ist nachvollziehbar. Wir als Gesellschaft erklären zwar, dass es nicht unbedingt ein Studium braucht, leben es aber im Alltag anders vor. In so kleinen Nebensätzen wie zum Beispiel „ die Jugendlichen sind alle daneben, die Jugendlichen erfüllen die Anforderungen nicht mehr für eine Ausbildung, Ausbildung kann eine Alternative sein, mit einer Ausbildung verdient man doch nichts, mit einer Ausbildung kommt man nicht weiter, Hauptschüler sind Restschüler oder wer ein Studium hat, ist fit für die Zukunft“. Da lese ich in der PM Zeitung, einen für diese Zeitschrift eher ungewöhnlichen Artikel, der sich mit den möglichen Konsequenzen des Studiums als Heilbringer beschäftigt. Darin beschreibt die Autorin Monika Weiner die Sicht auf die Dinge unter anderem aus dem Buch „The Triumph of Emptiness“ des schwedischen Wirtschaftswissenschaftlers Mats Alvesson.
„Die Zahl der Studenten steigt seit Jahrzehnten kontinuierlich an. Mehr als die Hälfte aller deutschen Jugendlichen drängt mittlerweile an die Hochschulen. Und fast eine halbe Million junger Menschen erlangt dort jährlich einen akademischen Abschluss“ beginnt die Autorin ihren Beitrag. Daraus leitete sich auch die Frage ab, welche Konsequenzen dies haben kann. Das müsste doch eigentlich gut sein, wenngleich viele Institutionen von einer Bildungsinflation sprechen, die es in Deutschland bereits einmal gab. In Inflation schwingt auch immer etwas Negatives mit. Extrem Nachteilig für einzelne Gruppen, aber auch mit großen negativen Effekten für die gesamte Gesellschaftsstruktur. „Die EU Staaten unterliegen der Verpflichtung, im Rahmen der Wandlung der Produktionsnationen zu Wissensgesellschaften mehr Geld für Bildung auszugeben und die Zahl der Studenten zu erhöhen. Mit den Hochqualifizierten Menschen lassen sich dann Innovation und Entwicklung bewerkstelligen“, beschreibt die Autorin. Das Prinzip Entwickeln hier, produzieren da (in sogenannten Billiglohnländern) gilt seit vielen Jahren in Deutschland, wobei allerdings auch eine Rückwanderung von Produktion zu beobachten ist. Im Weiteren gibt es Wissenschaftler, die Deutschlands wirtschaftlichen Erfolg mit der Entwicklung in den Status eines Billiglohnlandes begründen. Der Spiegel berichtet schon seit über 10 Jahren regelmäßig darüber. Aber die Produktionsmethoden werden technologisch immer Anspruchsvoller. Wenn man hört, dass zum Beispiel eine „kontinuierliche Bandbeschichtung im Hochvakuum mittels Plasmastrahlkanonen“ vorgenommen werden soll, dann liegt nahe, dass diese Tätigkeit von spezialisierten und sogenanntem „hochqualifiziertem Personal“ durchgeführt oder überwacht werden muss.
‚Wenn die Zahl der Studenten weiter so steigt wie bisher, wird ein Kind, das heute in Deutschland zur Welt kommt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mindestens einen Bachelor Abschluss machen – wenn nicht gleich nach der Schule, dann eben nach der Lehre oder als Weiterbildung im Laufe des Berufslebens. […] Selbst wenn Europa ein neues Wirtschaftswunder erlebt, wird niemand so viele Akademiker brauchen. Irgendwer muss schließlich auch Laster fahren, kellnern, Mülltonnen leeren, putzen, kochen, Haare schneiden und Kranke versorgen. Sollen das die Bachelors tun?“ (PM 4/2014 S. 51 ff.). Beim Lesen der letzen Zeilen komme ich nicht umhin, zumindest das Gefühl zu haben, dass „Akademiker“ nicht zu den Handwerklichen Tätigkeiten herangezogen werden sollten. „Schließlich auch“ etwas zu tun, ist die Arbeit, die praktisch über bleibt. Wobei ein Lastwagenfahrer durchaus forschen kann, ein Forscher aber möglicherweise nicht Lastwagen fahren kann. Und es kann gut sein, wenn Bachelor Kranke und Alte versorgen.
„Hörsaal statt Bettpfanne, Bachelor-Seminar statt Rückenschule“ zitiert der PM Beitrag einen Kommentar der „Süddeutschen Zeitung“ im Juli 2012 auf eine Empfehlung des Wissenschaftsrats. Dieser hatte seinerzeit eine Hochschulausbildung für Kranken- und Altenpfleger sowie verschiedene Therapeutenberufe empfohlen. Frau Weiner schreibt weiter: „Noch ist es nicht so weit, aber „Pflegemanagement“, „Innovative Pflegepraxis“, „Angewandte Pflegewissenschaften“ und „Körperpflege“ kann man heute schon studieren. Sollte man vielleicht sogar tun, denn der allgegenwärtige Glaube an den Nutzen von Aus-, Fort- und Weiterbildung führt dazu, dass alle, die keine entsprechenden Qualifikationen vorweisen können, als nicht leistungsbereite zweiter Wahl abgestempelt werden. Wenn alle studieren, um erfolgreich zu sein, hat das den gleichen Effekt, wie wenn sich alle auf die Zehenspitzen stellen, um besser zu sehen“ (PM 4/2014 S. 51 ff.). Nach Ansicht von Mats Alvesson handelt es sich bei der Bildungsinflation um eine „Illusion und kollektive Selbsttäuschung“. Und im Beitrag heißt es weiter „Ein Gros der Hochschulabsolventen habe keine Chance, eine adäquate Stelle zu finden, die ihrem Ausbildungsstand entspreche. Der Studentenboom führe zu einer „Hyperinflation“ von wertlosen Hochschulabschlüssen“.
Die Autorin schreibt: „Die Studienabgänger der „Generation Praktikum“ arbeiten oft jahrelang unentgeltlich, in der Hoffnung, irgendwann eine Festanstellung zu finden. „Dass qualifizierte Arbeit von morgen eine akademische Ausbildung fordert, trifft nicht so einfach und klar zu“, meint auch der deutsche Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth. Die Akademikerschwemme führe jedoch zu einem Verdrängungseffekt: Hochschulabsolventen sichern sich die besseren Jobs, „für die Nichtakademiker bleibt dann nur die schlecht bezahlte Arbeit übrig“. „Bei der Vergabe von Jobs entscheidet nicht die absolute, sondern die relative Bildung. Das heißt, die Qualifikation eines Kandidaten wird mit der von anderen verglichen. Wenn alle in eine akademische Ausbildung investieren, um erfolgreich zu sein, dann hat das denselben Effekt wie wenn sich in einer Gruppe alle auf die Zehenspitzen stellen, um einen besseren Blick zu haben. Es bringt gar nichts.“ Nur die Anforderungen werden immer weiter nach oben geschraubt. Angetrieben wird die Bildungsspirale vom Streben nach Grandiosität, einen kollektiven Größenwahn, der die ganze westliche Welt erfasst hat, meint Alvesson. „Die führenden Länder wetteifern darum, die inoffizielle Bildungs-Weltmeisterschaft zu gewinnen und dadurch eine wirtschaftliche Führungsrolle zu erlangen.“ Tatsächlich geht es also nur darum, besser zu sein als die anderen. Der Wunsch, sie zu übertrumpfen und in den Schatten zu stellen, prägt dabei nicht nur das Verhalten von Nationen, sondern auch das von Hochschulen und Studenten.“ (PM 4/2014 S. 51 ff.)
Bisher wurde von den Konsequenzen gesprochen, die das System „nach vorne“ gesehen mit sich bringen kann. Wichtig in diesem Blog ist jedoch vor allem auch der Blick, welche Konsequenzen die Kinder treffen können, bevor sie in diesem Bildungskonstrukt landen, sofern sie überhaupt dort ankommen. So kann man in dem Beitrag lesen:
„Bei Untersuchungen in Schweden und Australien hat er (Alvesson) festgestellt, dass an Elite-Universitäten besonders viele Kinder aus der Ober- und Mittelschicht studieren. Der Grund: Die renommierten Einrichtungen suchen die besten Kandidaten aus, und das sind meist diejenigen, die von klein auf vom Elternhaus gefördert wurden. Die übrigen müssen sich mit NoName-Hochschulen zufriedengeben. Diese seien reine Bildungsfabriken, die darauf abzielen, möglichst viele Studenten in möglichst kurzer Zeit durchzuschleusen. Heraus käme ein Heer mäßig ausgebildeter Akademiker, die kaum Aussichten hätten, einen guten Job zu bekommen – das „Bildungsproletariat der Zukunft. […] Es gibt ein paar Gewinner und ein paar Verlierer, aber die Gesellschaft als Ganzes hat nichts davon. Dennoch kann sich ihm niemand entziehen. Die jungen Menschen nicht, die Jahre ihres Lebens in Hörsälen verbringen, ohne etwas zu verdienen: die Arbeitnehmer nicht, die als Versager gelten, wenn sie nicht willens sind, bis zur Verrentung zu lernen und sich fortzubilden; die renommierten Universitäten nicht, die zu Ausbildungsstätten für allein und die vermeintlichen Märkte der Zukunft verkommen; die ehemaligen Fachhochschulen nicht, die sich als zweite Wahl abgestempelt fühlen; und der Steuerzahler auch nicht, denn er muss den Hype finanzieren.“ (PM 4/2014 S. 51 ff.)
Der Beitrag betrachtet leider zu wenig die möglichen Konsequenzen derer, die in dieses Bildungssystem hinein geraten. Aber das wenige deckt sich mit den anderen Beobachtungen zum Thema. Wer heute schon verloren hat oder durch die Gesellschaft zum Verlierer gemacht wurde, der hat noch schlechtere Karten in dieser ganzen Systematik über Wasser zu bleiben. Das Kernproblem ist, dass die Rahmenbedingungen geändert werden um vermeintliche Probleme zu lösen. Die Menschen, die sich in diesen Rahmenbedingungen bewegen müssen, bleiben aber die gleichen, wenn auch die Einstellungen in Teilen sich anpassen können. Das ist aber bei Erwachsenen ein ziemlich langwieriger Prozess, und die Kinder und Jugendlichen können genau dies entwicklungsbedingt eigentlich gar nicht leisten.
©2014 Achim Gilfert. Dieser Beitrag ist zur Weiterverbreitung nach den in diesem Blog veröffentlichten Regeln zum Urheberrecht veröffentlicht. Diese Regeln finden Sie hier: Urheberrechtshinweise. Die Texte aus der PM 4/2014 sind entsprechend markiert.
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