Im Bann des Zertifizierungs-Fetischismus. Wie der Weiterbildungsmarkt seine Kunden um ihre Kompetenzen bringt.

Im Bann des Zertifizierungs-Fetischismus. Wie der Weiterbildungsmarkt seine Kunden um ihre Kompetenzen bringt.<br><img class="text-align: justify" src="https://bildungswissenschaftler.de/wp-content/uploads/2013/07/praxis_120.png"/><img class="text-align: justify" src="https://bildungswissenschaftler.de/wp-content/uploads/2013/07/verweis_120.png"/><img class="text-align: justify" src="https://bildungswissenschaftler.de/wp-content/uploads/2014/08/meinung_120.png"/>

von Dr. Christoph Schmitt (Zug, Schweiz)

Der Weiterbildungsmarkt ist quasi-monopolistisch organisiert – durch das System der Zertifizierungen. Diese bestimmen sowohl darüber, was gelehrt wird, als auch darüber, wer lehren darf, als auch über die Abschlüsse, die die Klienten erwerben. Nicht aber darüber, was diese am Ende eines Kurses tatsächlich können. Und genau darum müsste es ja gehen. Wie kommt’s?

Zertifizierungen haben den Zweck, Zugänge zu regulieren. Auf einem mit Angeboten völlig überschwemmten Markt sind sie eine wunderbare Möglichkeit, sich als Anbieter über Wasser zu halten.  Letzten Endes dient Zertifizierung also vor allem dem Selbsterhalt des Systems.

Es ist wie bei beim Boxkampf. Am Vorabend des Turniers müssen alle auf die Waage. Nur wer innerhalb der Gewichtsgrenzen liegt, darf in den Ring, ist also „zertifiziert“. Was er dann im Ring bietet, entscheidet sich aber nicht auf der Waage. Deshalb: Zertifizierung kann nicht Qualität garantieren sondern nur  Zugänge regulieren.

Kunden in der Zwickmühle

Der Arbeitsmarkt kommt im Moment stark in Bewegung. „Arbeit“ beginnt sich neu zu definieren. Sie wird sich in den kommenden Jahren völlig verändern: Wie wir arbeiten, wo und mit wem und für welches Geld. Dabei steht eines jetzt schon fest: Wir werden am Arbeitsmarkt vor allem aufgrund unserer Kompetenzen gefragt sein, weniger aufgrund von Zertifikaten.

Das bringt die Kunden der Weiterbildungsindustrie in eine schwierige Lage: Ihre Weiterbildungsbudgets stehen nämlich ständig auf der Kippe. Nicht zuletzt deshalb, weil Arbeitnehmer und Arbeitgeber den tatsächlichen Zuwachs an Kompetenzen durch Weiterbildung nicht wirklich benennen können. Deshalb hoffen sie umso mehr auf die „Wirksamkeit“ des Zertifikats: Es soll zu mehr Lohn und Arbeitsplatzsicherheit führen. Für deine berufliche Zukunft ist also im Moment nicht entscheidend, welche Kompetenzen du aufgrund einer Weiterbildung vorweisen kannst, sondern ob du mit einem Zertifikat winken kannst. Das ist zwar völlig widersinnig, aber es funktioniert hervorragend. Bisher.

Jetzt, wo die Arbeitsmärkte und Arbeitgeber immer lauter nach konkreten Kompetenzen rufen, wird dieser Widersinn erst so richtig sichtbar: Der Zertifizierungs-Fetischismus verhindert eine wirksame Ausbildung von Kompetenzen. Warum? Weil die Zertifizierungskultur eine formalisierte Regulierungskultur ist, die nicht auf Kompetenzen achtet, sondern auf Qualifizierungen starrt.

Der doppelte Betrug

Schon heute spüren immer mehr Menschen, dass ihnen traditionelle Aus- und Weiterbilder nicht  vermitteln, was sie brauchen. Aber wo sonst sollten sie es sich holen? Umso schlimmer ist es deshalb in meinen Augen, dass in den nächsten fünf bis zehn Jahren die Zahl der Menschen noch einmal massiv zunehmen wird, die zwar bis an die Zähne zertifiziert sind – ohne jedoch über jene Kompetenzen zu verfügen, die ein in seiner Entwicklung unvorhersehbarer Arbeitsmarkt von ihnen fordert. Und das, obwohl wir seit über 40 Jahren und gesichert durch empirische Forschung aus allen Ecken und Schulen wissen, dass Erwachsene 70-80 % ihrer Kompetenzen außerhalb und losgelöst von „zertifizierten Bildungstankern“ erwerben (Buchempfehlung).

Dabei gilt die so genannte 70:20:10-Erfahrung bis heute. Das meiste was wir in Beruf und Alltag wirklich brauchen, lernen wir informell. Anschaulich beschrieben wird das hier. Zur „Überschätzung der Institutionalisierung von Kompetenzenbildung“ gibt es hier ein anschauliches Video. Sinn, Wert und Nutzen von Weiterbildung, die Menschen zu Bildungszwecken aus ihren realen Arbeitskontexten herauslöst und in Präsenzformaten mit der Vermittlung von Wissen okkupiert, sind erwiesenermaßen ineffizient und ineffektiv. Wenig ist im Bildungssektor besser erforscht, als diese Zusammenhänge. Siehe hier.

Höchste Eisenbahn

Es wird nicht mehr lange dauern, bis diejenigen, die ihr Geld in klassische Formate der Weiterbildung investieren, längst fällige Entscheidungen treffen und ihre Weiterbildung in die eigene Hand nehmen. Unternehmen und Arbeitnehmer sind nämlich darauf angewiesen, dass sie auf wirksamen Wegen jobrelevante Kompetenzen entwickeln. Die betriebliche Weiterbildung geht hier bereits vielerorts erfolgreiche neue Wege, während die Anbieter beruflicher Weiterbildung im großen Stil am Bestehenden festhalten.

Zukünftig werden immer mehr Kundinnen und Kunden vor allem in solche Weiterbildungen investieren, die einen realen, sichtbaren und spürbaren Nutzen bewirken. Die gute Nachricht ist: Solche Konzepte gibt es schon. Sie werden bereits erfolgreich praktiziert: Das „social workplace learning“ ist eine besonders wirksame und finanziell äußerst attraktive neue Form der Weiterbildung. Auch im deutschsprachigen Raum, (Buchempfehlung).

Profil von Dr. Christoph Schmitt (Zug, Schweiz)

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