Im Fokus der neuen NRW Regierung. Bildung & Berufsbildung – Realisierungscheck

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In diesem Beitrag habe ich die Kerne des Koalitionsvertrages von CDU und FDP mit Blick auf den Fokus Bildung/Berufliche Bildung extrahiert und möchte diese mit einer Einschätzung zur Realisierungschance versehen. Die Punkte Inklusion und Flüchtlinge finden in diesem Beitrag wegen ihrer Besonderheiten keine Berücksichtigung. Meine Realisierungseinschätzung wird sich in 5 Jahren ja überprüfen lassen. Einige Punkte sind sehr komplex, weshalb diese zum besseren Verständnis in kleinere Abschnitte eingeteilt wurden.

Im Koalitionsvertrag ist zu lesen (kursiv):

„Berufliche und die akademische Bildung ist gleichwertig. Eine Ausbildung ist genau so viel wert wie ein Hochschulabschluss. Wir lehnen die unnötige Akademisierung von klassischen Ausbildungsberufen deshalb ab. Um die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung umfassend zu berücksichtigen, sollen bei der Berufsinformation verbindlich nicht nur Studienfächer, sondern gleichwertig auch stets konkrete Ausbildungsgänge vorgeschlagen werden. Zur Stärkung dieses wichtigen und chancenreichen Bildungsbereichs bedarf es eines Pakts für berufliche Bildung von Bund und Ländern. Notwendig sind eine Vereinheitlichung der Anerkennung von Abschlüssen der beruflichen Bildung auf Studienleistungen und ein Konzept der höheren Berufsbildung. Hierbei sollen neue Bildungswege im Abschluss gleichwertig sein mit den beiden akademischen Qualifikationen Bachelor und Master. Zudem muss die Doppelqualifizierung mit Meister und Bachelor möglich sein“. 

Realisierungschance: Zuerst einmal ist die Anerkennung der Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung eine Haltung, die in früherer Zeit (bis an den Anfang der 2000er Jahre) praktisch als Unding galt. Und auch heute noch sind nicht alle wirklich begeistert davon – allen voran die, die von vornherein höhere Bildungsmöglichkeiten hatten. Dennoch hat sich mit der Zeit einiges getan. Zum einen wurde ein Deutscher und ein Europäischer Qualifizierungsrahmen zu Vergleichbarkeit von Abschlüssen geschaffen und es entwickelte sich eine Forschung zu diesem Thema und es gibt sogar eine Formel dazu. Ein Bericht dazu findet sich in diesem Beitrag. Das bei der Berufsinformation akademische Berufsfelder und Berufsausbildungsfelder gleichzeitig vorgeschlagen werden sollen ist meines Erachtens naheliegend – die Frage ist eher, warum das nicht üblicherweise bereits jetzt erfolgt. Der angesprochene Pakt zwischen Bund und Ländern bedeutet für den einen oder anderen einen Angriff auf den Föderalismus im Bildungsbereich. Nicht ohne Grund gibt es in der Bundesrepublik verschiedene Anerkennungsrichtlinien und Abschlüsse.  Ich sehe eine Realisierung dieses Punktes als schwierig an, da es sich nicht um eine „Maßnahme“ handelt, sondern eine Haltungsveränderung in der gesamten Akteurs Landschaft wie auch der Gesamtgesellschaft erfordert. Wenn es einen Pakt gibt, bin ich gespannt wie weit sich hier tatsächlich etwas relevantes tut.

„Wir wollen die Möglichkeit modularer Ausbildungen fördern und den Ausbildungskonsens fortführen“.

Realisierungschance: Der Punkt, die Durchführung modularer Ausbildung zu stützen, dürfte sich am Einsatz der durch das BiBB entwickelten Ausbildungsbausteine orientieren. Das wird bereits seit 2008 ausgeführt und es gibt sogar eine eigene Programmreihe dazu (Jobstarter Connect). Modulare Qualifizierungen zum Facharbeiter selbst gibt es schon länger. Bereits 1997 wurden diese mit Unterstützung der damaligen Arbeitsämter mit großem Erfolg angewandt. Die Schwierigkeiten beim Regeleinsatz der Ausbildungsbausteine liegt eher in der mangelnden Akzeptanz bei den Prüfungskommissionen der Kammern, da diese eine Anrechnung der Bausteine auf Kompetenzerwerb im Arbeitsprozess nicht wünschen und einer Abschlussprüfung am Ende nur über eine Externenprüfung zustimmen. Der Einsatz würde in jedem Falle beim lebenslangen Lernen und bei der Formalisierung von Kompetenzen helfen und unterstützen. Ich vermute, dass es keinen flächigeren Ausbau modularer Ausbildung geben wird.

„Gemeinsam mit der Wirtschaft entwickeln wir kooperative Programme, die sich gezielt an Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher richten. Wir werden uns für einen Ausbau der Teilzeitausbildung einsetzen, um jungen Eltern und Alleinerziehenden die Möglichkeit zu geben, Ausbildung und Familie gleichzeitig zu bewältigen. Insbesondere für Jugendliche, die mit einer dreijährigen Ausbildung überfordert sind, werden wir für mehr Berufsbilder zweijährige Ausbildungsabschlüsse schaffen“. 

Realisierungschance: Die Chancen sind gut, dass die Beteiligten sich so weiter engagieren, wie bisher. Wenn mit den „kooperativen“ Programm gemeint ist, weitere Aufträge für berufliche Bildungsträger zu generieren, so müssen lediglich mehr Mittel bereit gestellt werden. Der Ausbau der Teilzeitausbildung hängt wiederum nicht von dem Willen der Regierung ab, denn diese Möglichkeit bietet das Berufsbildungsgesetz schon seit 2005. Sie wird aber nur wenig in Anspruch genommen. Ebenso wird die Teilzeitausbildungsmöglichkeit kritisiert. Als Grund wird zum Beispiel die Frage gestellt, wie das Betroffene bei einer höheren situativen Belastung in der Lage sein sollen, die Inhalte in kürzerer Zeit zu erlernen. Betriebe stellen auch die Frage, warum sie selbst länger ausbilden sollten, wenn es doch möglich ist, eine Ausbildung sowieso zu verkürzen. Das Vorhaben, mehr Berufsbilder mit zweijähriger Dauer zu schaffen, wird zugunsten einer weiteren Verallgemeinerung der Ausbildungsinhalte der Berufe erfolgen können. Eine tatsächliche Ausweitung der zweijährigen oder auch der Stufenberufe, dürfte in den kommenden 5 Jahren aber durch die Regulierungsbehörden nicht großartig stattfinden.

„Wir werden Jugendliche mit schulischen und ausbildungsbezogenen Defiziten besser unterstützen, zum Beispiel durch eine weitere Verbreitung des Programms „assistierte Ausbildung“ der Bundesagentur für Arbeit“.

Realisierungschance: Der Gedanke, assistierte Ausbildung weiter zu stärken, ist eine gute Reaktion auf die Problemlage. Dieses Instrument bietet meines Erachtens nach die besten Möglichkeiten für alle Beteiligten. Aber auch hier: Es bedarf mehr Mittel um mehr assistierte Ausbildung durchzuführen. Und es ist zu berücksichtigen, dass dieses Instrument in erster Linie dazu dient, ein System zu bedienen.

„An Hauptschulen werden wir durch eine verstärkte Kooperation mit beruflichen Schulen, der regionalen Wirtschaft, den Handwerkskammern und den Industrie-und Handelskammern in regionalen „Bündnissen für Schule, Ausbildung und Beruf“ die Berufsorientierung intensivieren.“

Realisierungschancen: Regionale Bündnisse der genannten Akteure gab und gibt es sehr viele. Das Zusammenwirken der Akteure führt häufig zu Verbesserungen in den Übergängen. Ich stelle mir die Frage, was hier noch verstärkt werden soll? Praktisch jede Kammer, jeder Arbeitgeberverband, jede berufliche Schule sowie viele Arbeitgeber(Interessen)Verbände pflegen enge Kooperation. Es mangelt hier nicht an der Menge von Kooperation, sondern aus meiner Sicht an qualitativer Kooperation. Nahezu alle Bündnisse versuchen an dem Nachwuchs „zu schrauben“. Sie stellen die wirtschaftlichen Gegebenheiten als „gesetzt“ dar und nutzen keine Spielräume in der Zuerkennung von Augenhöhe an den Nachwuchs und zeigen nur wenig eigenen Veränderungswillen. Ich stelle mir vor, dass alte Bündnisse neue Namen erhalten und finanziell besser ausgestattet werden – jedoch in der Aktivität kaum Veränderungen zugelassen werden. Die Provokante Frage bei fast allen Bündnissen lautet: Wo ist die gestalterische Partizipation des Nachwuchses – außer in der Absolvierung der Forderungen der Vorgänger?

„Wir wollen bei der Aufnahme der Schülerinnen und Schüler die Entscheidungsmöglichkeiten der Schulen aufgrund ihres jeweiligen Bildungsauftrags stärken. Das Programm „Kein Abschluss ohne Anschluss“ werden wir evaluieren und an allen Schulformen weiterentwickeln. Zur Sicherung der Ausbildungsreife von Schulabsolventinnen und –absolventen werden wir zusätzliche Anstrengungen unternehmen. Berufsorientierungs-und Berufsübergangsprogramme wie „Kein Abschluss ohne Anschluss“ werden wir praxistauglicher gestalten.“

Realisierungschancen: Das Programm wird sicher finanziell weiter gefördert und wie beschrieben evaluiert und ausgebaut. Allerdings bezweifele ich, dass KAoA praxistauglicher gestaltet werden kann. Aus sich heraus halte ich das aufgrund der strukturellen Einbettung für kaum machbar. Einzig wenn zusätzliche Mittel bereit gestellt werden, und eine entsprechende Praxiskompetenz hinzugekauft oder beauftragt wird, kann eine höhere Praxistauglichkeit erreicht werden. Eine Sicherung der Ausbildungsreife wird meines Erachtens keine Realisierungschance erfahren, einfach weil sich an den Angeboten an die Betroffenen wahrscheinlich keine systemische Änderung ergeben wird. Ich nehme an, die Angebote werden sich quantitativ erhöhen, nicht aber qualitativ.

„Darüber hinaus werden wir als besondere Maßnahme für unterschiedliche Schulformen mindestens 30 Talent-Schulen insbesondere mit MINT Schwerpunkt mit exzellenter Ausstattung und modernster digitaler Infrastruktur in Stadtteilen mit den größten sozialen Herausforderungen einrichten.“

Wenn die Talentschulen sich an Menschen mit hoher Selbststeuerungsdisposition beim Lernen richten – das bedingt die angeführte exzellente Ausstattung und modernste digitale Infrastruktur – dann ist es wahrscheinlich, dass dies eher weniger wirksam in Stadtteilen mit den größten sozialen Herausforderungen ist. Denn diesen Stadtteilen wird nachgesagt, dass dort vermehrt Menschen leben, die diese Voraussetzung nicht mitbringen. Beim Einsatz digitaler Medien bei Lernangeboten kann durch die geringe Selbststeuerungsdisposition der Zielgruppe sogar -anders als gewünscht- zu höherer Bildungsspaltung führen, sagt die Bildungsforschung. Aber ich bin der Ansicht, dass selbst wenn nur wenige durch diese Maßnahmen die Gelegenheit erhalten, ihren eigentlichen Bildungsbestrebungen -ungeachtet von Konventionen oder „Inkompetenzzuweisung“- zu folgen, diese Menschen positive Multiplikatoren in der Gesellschaft sein können.

Die Erprobung des Berufsabitur nach Schweizer Vorbild unter Wahrung der Qualitätsstandards von Abitur und Ausbildung durch diese Landesregierung ist ein weiterer Meilenstein. Hier gibt es bereits Erfahrungen. Schauen wir, was wird.

©2017 Achim Gilfert. Dieser Beitrag ist zur Weiterverbreitung nach den in diesem Blog veröffentlichten Regeln zum Urheberrecht veröffentlicht. Diese Regeln finden Sie hier: Urheberrechtshinweise.

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