Menschen mit Behinderung – Über berufliche Identifikation, Berufswahl und qualitative Zuverlässigkeit

Menschen mit Behinderung – Über berufliche Identifikation, Berufswahl und qualitative Zuverlässigkeit<br><img class="text-align: justify" src="https://bildungswissenschaftler.de/wp-content/uploads/2013/07/praxis_120.png"/>

Die Deutschen identifizieren sich, gegenüber vielen anderen Nationalitäten, im Besonderen über ihren Beruf und ihre Arbeit. Die Berufswahl besitzt neben dem Finden eines Berufs zum Einkommenserwerb auch die Aufgabe, diesen mit einer bestimmten Vorstellung eines „lebensglücklichen“ Berufes zu versehen. In diesem Rahmen habe ich in verschiedenen Beiträgen die Berufswahl auch im historischen Kontext betrachtet. Im Verlauf der Geschichte hat sich schon einiges im Übergang behinderter Menschen getan, wenngleich der größte Fortschritt heute der ist, dass die Existenz behinderter Menschen gesellschaftlich anerkannt ist. Zu früheren Zeiten war die Rede von Krüppeln, Versehrten und Bekloppten, die, sofern am Leben gelassen, versteckt wurden.

In der Nazizeit gab es bekanntermaßen Programme zur Vernichtung „unwerten Lebens“. Zum Glück ist dies größtenteils überwunden, wenngleich in vielen Ländern der Welt nach wie vor Schlimmes diesbezüglich geschieht. Ich wollte gerne noch einen Beitrag zu diesem Thema schreiben, der aber auch von praktischen Erfahrungen berichten sollte. Da ich selbst nur marginale Erfahrungen im Übergang von behinderten Menschen habe, bat ich Herrn Münch um einen Interviewtermin. Er selbst hat auch in diesem Blog bereits den, wie ich finde, sehr empfehlenswerten Beitrag „Inklusion in der Arbeitswelt? – ein Perspektivwechsel“ verfasst. Herr Münch ist Inklusionsbeauftragter bei der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer zu Hagen. In dieser Funktion ist er Ansprechpartner für Unternehmer rund um das Thema „Teilhabe am Arbeitsleben“. An der Nahtstelle zwischen Unternehmen und Einrichtungen der Behindertenhilfe dient er als Lotse und bietet darüber hinaus das Angebot für Unternehmen, den Mensch mit Behinderung als potentiellen Mitarbeiter für sich zu entdecken. Mit dem eher unternehmerischen Blick wird so der Fokus auf die Qualifikation und nicht auf die Defizite von Menschen mit Behinderungen gelegt. Auf Grund seiner vorherigen Tätigkeit im Bereich der Behindertenhilfe kennt er beide Seiten und dient so auch als Vermittler der unterschiedlichen Sichtweisen.

Eine der ersten Fragen betraf das Lebensglück mit Blick auf die Arbeit. Steht bei behinderten Menschen ebenso eine Definition eines Teils ihres „Lebensglücks“ über eine Arbeits- und Berufsidentität so im Vordergrund, wie bei Menschen ohne Behinderung? „Die Wertigkeit der Arbeit wird von Menschen mit Behinderung oft anders bewertet“, erläutert Herr Münch. „Dabei spielt sicher der andere Zugang zu Arbeit und Beruf eine Rolle“. Weiter bekomme ich erläutert, dass durch die unterschiedlichen Zugänge Behinderter und Nichtbehinderter Menschen zur Arbeitswelt an sich eine andere Bewertung erfolgt. So sehen sich behinderte Menschen häufig damit konfrontiert, die „Wahlmöglichkeit“ für einen Beruf oder eine Arbeit gar nicht zu haben. Gering qualifizierte Arbeit durch fehlenden Zugang zu höher qualifizierter Arbeit ist üblich.

So sind behinderte Menschen in ihrer Berufsfreiheit „Grundeingeschränkt“. Und das muss nicht immer etwas mit der Art der Behinderung zu tun haben, sondern kann unter anderem davon abhängig sein, wie ein Mensch in einem Ordnungssystem verankert wird. „Wichtiger als die Definition über die Art der Arbeit ist behinderten Menschen die Identifikation innerhalb der Arbeitsorganisation. Die sozialen Aspekte von Arbeit, wie zum Beispiel das Gefühl ein Teil der Arbeitsgemeinschaft zu sein oder gebraucht zu werden, spielt hier eher eine Rolle. Je mehr der Mensch mir Behinderung allerdings am „normalen“ Leben teilnimmt, desto mehr Wert wird auch auf Normalität, zum Beispiel bei der Bezahlung wie auch der sozialen Absicherung gelegt.“ so Münch.

Schauen wir uns eine ungelernte Tätigkeit, wie sie häufig durch Menschen mit Behinderung ausgeführt wird, einmal genauer an. Das Einlegen von Produkten in eine Verpackung oder das einfache Montieren von Bauteilen. Die meisten Menschen finden diese Tätigkeiten nicht herausfordernd oder befriedigend (mit Blick auf das Lebensglück). In jedem Fall erfordert die gleichtönige Arbeit Konzentration und Genauigkeit. Sehr oft geht es nicht um eine technische Funktionalität, sondern um eine bestimmte optische Wirkung. Alles soll gerade liegen, in bestimmter Form angeordnet oder sortiert sein. Hier höre ich, dass Menschen mit Behinderung sich durch eine deutlich höhere qualitative Zuverlässigkeit auszeichnen.

Herr Münch erläutert: „Grundsätzlich hat befriedigende Arbeit etwas, neben der Anerkennung durch Dritte, damit zu tun, in wie weit ich durch meine Tätigkeit insgesamt über- oder unterfordert werde. Daher sind einfachste Tätigkeiten auch mit diesem Fokus zu betrachten. Der „normale“ Mensch ist bei der Bewältigung einfachster Verpackungsaufgaben (zum Beispiel zehn Schrauben in eine Dose zu packen) unterfordert. Dies führt automatisch zu einer Ablenkung auf andere Dinge, welches in Folge dazu beiträgt, die Konzentration auf die eigentliche Arbeit zu verlieren- und somit Fehler zu machen. Ist aber das Zählen und Verpacken von zehn Schrauben der Grenze meiner Leistungsfähigkeit viel näher, lässt die Konzentration nicht nach, worauf die Fehlerquote sinken wird. Wenn nun meine Arbeit bezogen auf meine Leistungsfähigkeit wertgeschätzt wird, entsteht eine Arbeitszufriedenheit, die wiederum meine Motivation und Zuverlässigkeit erhält oder sogar erhöht“. Offen gesagt, so habe ich das noch nicht gesehen bzw. sehen können. Eine beeindruckende Beschreibung.

Behinderte Menschen im Erwachsenenalter werden in der Diskussion der Fachkräfte nicht oder nicht ausreichend betrachtet. Wird Jugendlichen mit Behinderung bei den Nachwuchsfragen in den Betrieben oder in Programmen der Nachwuchsförderung mehr Aufmerksamkeit gewidmet? Diese Frage ließ sich nicht konkret beantworten, da sich auch die Jugendlichen in Sondersystemen befinden. Hier gelten andere Regeln und andere Voraussetzungen der Teilnahme zum Beispiel bei Programmen oder der Inanspruchnahme finanzieller Mittel. Hier beginnt gerade erst ein Veränderungsprozess, schon alleine bedingt durch die Entwicklungen bei der Inklusion im Schulbereich.

©2015 Achim Gilfert. Dieser Beitrag ist zur Weiterverbreitung nach den in diesem Blog veröffentlichten Regeln zum Urheberrecht veröffentlicht. Diese Regeln finden Sie hier: Urheberrechtshinweise.

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