5000 Jahre Kritik an den Jugendlichen – eine Problembilanz

5000 Jahre Kritik an den Jugendlichen – eine Problembilanz <br><img class="text-align: justify" src="https://bildungswissenschaftler.de/wp-content/uploads/2013/07/theorie_120.png"/><img class="text-align: justify" src="https://bildungswissenschaftler.de/wp-content/uploads/2013/07/praxis_120.png"/>

Der meistgelesene Beitrag auf diesem Blog trägt den Titel „5000 Jahre Kritik an Jugendlichen – Eine sichere Konstante in Gesellschaft und Arbeitswelt“. Neben konstruktiven Kommentaren gibt dort aber auch einige, die Quellen anzweifeln oder abwertend kommentieren. Ich antworte immer ordentlich, aber vor kurzem gab es einen Kommentar unter dem Beitrag, der auf ein „Gewäsch“ hinweist, was „keiner versteht“.

Aus diesem Grunde greife ich den Ursprungsbeitrag hier auf und verknüpfe ihn mit einer aktuellen Sicht auf die Zusammenhänge der Kritik an Jugendlichen und dem Nachwuchs allgemein. Dabei beziehe ich mich hauptsächlich auf das Buch „Die Schülerschelte“ von Gustav Keller [1], der den Sachverhalt wissenschaftlich unter die Lupe genommen hat.

Betreffend die Zitate möchte ich kurz erläutern, dass sich Historiker und sogar Archäologen mit Schule und Schulbildung beschäftigen. Sei es, dass beispielsweise Tontafeln mit Keilschriften ausgegraben und entschlüsselt werden wie bei den Sumerern oder auch die Ausgrabungen griechischen wie auch aus römischen Zeiten. Zum einen finden sich Schulorte oder Schulutensilien und zum anderen Dokumente, die darlegen wie die Schule damals funktionierte oder welche Teile der Bevölkerung warum in eine Schule gingen. Auch Gustav Keller verweist auf diese Quellen.

Die Problembilanz der letzten 5000 Jahre, beginnend bei den Sumerern und drückt sich in Zuweisungen aus, die Gustav Keller in einer Rangliste zusammenfasst. So werden dem Nachwuchs „mangelnde Lernmotivation, Konzentrationsschwäche, Lese-Schreibschwierigkeiten, Rechenschwierigkeiten, fachbezogene Wissenslücken, Unterrichtsstörungen, fehlerhaftes Sozialverhalten und moralische Defizite.“ zur Last gelegt. [2]

Wir leben in einer defizitorientierten Welt. Es zählt überwiegend, was man nicht kann. Das Defizit bestimmt hierzulande beispielsweise über Förderungen (finanzieller Ausgleich von Defiziten). Eine Folge ist die Vermittlung, nie gut genug zu sein. Das hat negative Wirkungen hinsichtlich der Entwicklung eines Selbstbewusstseins oder eines Selbstwertgefühls auf Menschen. Hinzu kommt die Erkenntnis (erstaunlicherweise stellen sich viele das nicht vor), dass es nicht unbedingt um die individuelle Entwicklung der Kinder geht, sondern um eine Verwertbarkeit in der Gesellschaft oder auch in der Wirtschaft. Da aber die Gesellschaft unserer Zeit immer mehr Individualität zulässt wird die Forderung nach dieser größer und die Lust auf „Verwertbarkeit“ in der Gesellschaft nimmt ab.

Die Aufgabe von Schule ist, grob gesagt, eine Integration in die vorhandene Gesellschaftsstruktur, die Werteweitergabe dieser, gepaart mit eben einer ökonomischen Verwertbarkeit der Menschen zum Zwecke der Aufrechterhaltung dieser Gesellschaft. Wir können beispielsweise ein Spannungsfeld in der Berufsorientierung erkennen. Die Jugendlichen sollen wissen, was sie wollen. Sie sollen für sich verantwortlich sein und ihren Weg finden – aber meistens doch so, wie die Vorgänger sich das Wünschen. An vielen Stellen werden die Jugendlichen daher nicht gelassen und sind fremdbestimmt.Gustav Keller führt sechs Punkte an, die verantwortlich für die starke Kritik an den Jugendlichen sind. Ich zitiere hier ganze Sätze, da ich es selbst nicht unbedingt besser formulieren kann – von Anmerkungen abgesehen.

1 – Mit den Jahrtausenden steigt die Komplexität der Welt, der sozialen Umstände, der Technik und die Verknüpfung von Menschen und Technik an. In den letzten 150 Jahren exponentiell. Die Anforderungen an die Menschen steigen im gleichen Maße, allerdings ist die „Hardware“ der Menschen die gleiche wie noch bei den ersten Menschen. Deswegen, so Keller, „…sind die Entwicklungen schwieriger und dauern länger. Es sind weniger die Entwicklungsresultate, sondern die Ungeduld, mit der die Erwachsenen darauf schauen.“. Er weist darauf hin, dass ganze Generationen, die für unfähig gehalten wurden, die Welt vernetzt und viele technische Errungenschaften ermöglicht haben [ANMERKUNG 3].

2 – Erwachsene formulieren häufig Idealvorstellungen oder entwickeln strenge Glaubenssätze woran dann die Schüler*innen gemessen werden. Keller nennt die folgenden: „Mein Kind muss ein sehr guter Schüler sein, es darf keine Fehler machen, es ist schlimm, wenn es ein Ziel nicht erreicht, es ist nur dann wertvoll, wenn es tolle Leistungen erbringt, unsere Schüler müssen spitze sein, sie dürfen uns keine Probleme machen.“.

Hier erwarten die Erwachsenen eben nicht nur den individuellen Erfolg, sondern weisen weitere Aufgaben zu. Die Gesellschaft muss erhalten werden wie sie ist, die Kultur ist zu pflegen, für die Rente der Alten ist zu sorgen, für den Fortbestand der Bevölkerung ist der Nachwuchs verantwortlich, die Umweltfolgen müssen getragen werden – und das alles bitte so, dass die Vorgänger sich möglichst nicht verändern müssen.

3 – „Vielerorts projizieren Erwachsene ihre eigenen Schwächen auf das Verhalten der Kinder.“. Dabei sind Erwachsene nicht perfekt, erbringen tagtäglich bewusst und unbewusst Fehlleistungen im Alltag und bei der Arbeit. Auch Faulheit oder der Kampf mit der Überwindung etwas zu tun wie auch die Aufschieberitis, das Brechen sozialer Normen oder das Kränken von anderen Menschen gehört dazu. Regeln nicht einhalten, wie beispielsweise bei Geschwindigkeitsbegrenzungen, kennt jeder allzu gut. „Aus der Sicht von Sigmund Freud bedeutet das, dass der eigene Fehler am Mitmenschen wahrgenommen und kritisiert wird.“ bemerkt Keller hierzu.

4 – Ein weiterer Punkt ist die Verklärung der Erinnerung und der Vergangenheit. „Früher war alles besser […] an dem Trugschluss ist ein Schutzmechanismus des Gehirns maßgeblich beteiligt“, schreibt Keller, denn damit sich der Mensch wohlfühlen kann, fokussiert sich die Erinnerung auf das Positive und Schöne des Vergangenen. Wir vergessen schlicht das negative der Vergangenheit.

5 – Es gibt im Weiteren einen Lupeneffekt. Die dauernde Thematisierung und Beobachtung von vielen Akteuren der Gesellschaft, in der die Jugendlichen leben, lässt Schwierigkeiten größer und negativer erscheinen als es real der Fall ist. Gerade soziale Medien und die öffentliche Berichterstattung dramatisieren und schaffen damit eine vermeintliche Wirklichkeit, die man durchaus in Frage stellen kann. Eine Paralelle sind die Filterblasen, in welchen wir uns befinden.

6 – „Diese Schülerkritik versperrt den Blick auf die tatsächlichen Probleme und lenkt davon ab.“. Es steht nicht die Frage nach den Ursachen im Raume, sondern thematisiert wird das daraus resultierende Problem. Die Verursacher sind die Erwachsenen und vielleicht wird die Frage nach den Ursachen auch deswegen nicht gestellt, weil sie darum wissen. „Unsere Bildungspolitik zeigt sich an den PISA-Ergebnissen der Schüler. Unsere Erziehungsfehler kehren wieder in Form ihrer Lernprobleme (der Jugendlichen). Unser Hedonismus widerspiegelt sich unweigerlich in ihrer Faulheit (der Jugendlichen). Unser hektischer Lebensstil drückt sich in ihrer Unruhe und Unaufmerksamkeit aus (der Jugendlichen). Das Klagelied vom schlechten Schüler ist zum Großteil Selbstanklage.“ erläutert Keller.

Die Zusammenhänge sind viel weitreichender und vielschichtiger, als dass dieser Beitrag darauf eingehen könnte. Das Ziel des Beitrages ist die Entwicklung eines Verständnisses für die Jugendlichen. Keller schreibt in seinem Buch über den Schulbesuch in Teilen von „zwanghafter Beruflichkeit der Schüler“.

Wenn wir uns anschauen, wie viele Stunden pro Woche die Schüler für die Schule arbeiten und in wie vielen verschiedenen Kontexten das Ganze stattfindet, ist das schon beachtlich. Alles was die Schüler tun, wird bewertet. Schlussendlich garnieren Überstunden die tägliche Arbeit – also Hausaufgaben. Und mancher Samstag (Samstag ist in Deutschland ein Werktag) geht für Übungen und die Schule drauf. Und das nicht einmal für eine Kompetenz der Zukunft, sondern für die Erlangung eines Zertifikates, einer Erlaubnis für „mehr“.

Ich stelle mir ernsthaft die Frage, welcher Erwachsene hier ruhig bleiben würde, wenn so seine Arbeitswoche oder seine Erwerbsarbeit aussähe.Zusätzlich gibt es zur Zeit Aufholprogramme wegen Corona. Aufholen heißt zusätzliche Belastung. Nehmen wir einen Paketboten, der täglich 1.000 KG Pakete austrägt. Es fällt nun eine Woche aus. Aufholen bedeutet in dem Fall, dass 1.000 KG Pakete am Tag zusätzlich ausgetragen werden müssen. Denn die Pakete kommen ja weiterhin. Der Bote trägt also für einen Zeitraum von 7 Tagen täglich 2.000 KG Pakete aus. Vielleicht macht es das Beispiel verständlicher – an 2.000 KG dürfte der Bote scheitern. Eine völlige Überlastung dieses Menschen.

Ich hoffe, ich konnte den ursprünglichen Beitrag 5000 Jahre Kritik an Jugendlichen – Eine sichere Konstante in Gesellschaft und Arbeitswelt sinnvoll ergänzen und deutlich machen, dass die einzelnen Zitate zwar lustig sind, hinsichtlich ihrer Abwertung und Bedeutung aber doch sehr ernstgenommen werden sollten.

Nachtrag: Der Neurobiologe Gerald Hüther sagt in einem Interview: „Wenn die Schule ab morgen nur noch selbstbewusste Schüler und Schülerinnen mit einem hohen Selbstwertgefühl entlassen würde, würde die komplette Werbewirtschaft und der auf Werbung aufgebaute Konsum zusammenbrechen.“. Sehr interessant, wie ich finde. Und das es immer schon so war ist heute in meinen Augen kein gültiges Statement mehr, denn seit Beginn der Erkenntnisse in der Entwicklungspsychologie oder auch anderer Forschung darüber, auf welchen Grundlagen „Menschsein“ funktioniert, wissen wir ziemlich genau, wie man es anders machen könnte.

[1] [2] und alle weiteren Zitate (kursiv) in dem Beitrag: Keller, G. (2014). Die Schülerschelte. Leidensgeschichte einer Generation. Reihe Pädagogik. Band 52. Herbolzheim. CENTAURUS Verlag & Media UG

[ANMERKUNG 3] Der Blick aus der anderen Seite wird hier wichtig. Wenn es so ist, dass der für unfähig gehaltene Nachwuchst all diese fortschrittlichen Errungenschaften generiert hat, dann kann aus der Wahrnehmungsperspetkive der Schule dergestalt argumentiert werden, dass der Nachwuchs die Fortschritte erzielt hat, weil die Schule wie sie ist, dafür gesorgt hat. Das ist eine Folge der Nachschulzeit und damit ein Verdienst der Schule. Daher glaube ich, dass es, mit einer Systembrille gesehen, darum geht, dass Options- und Potentialverluste vermindert werden. Diese Perspektive ist ein schwieriger Punkt in Diskussionen und wird daher in einem anderen Beitrag thematisiert.

©2022 Achim Gilfert. Dieser Beitrag ist zur Weiterverbreitung nach den in diesem Blog veröffentlichten Regeln zum Urheberrecht veröffentlicht. Diese Regeln finden Sie hier: Urheberrechtshinweise.

1 Kommentar zu „5000 Jahre Kritik an den Jugendlichen – eine Problembilanz

  1. Ein gelungener Kommentar auf einen gelungenen Artikel zu rinrm gelungenen Aufsatz.
    Sollten alle, im weitesten Sinne mit „Bildung“ oder sogensnnter „Erziehung“ Befassten, sich jeden Tag, oder eenigstens ab und an, den Satz von Kurt Tucholsky zu den unterschiedlichen Kulturen zwischen jung und alt vergegenwärtigen, wäre schon viel gewonnen.

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