Von OBEN und UNTEN, von dem was sich Jugendliche anhören müssen und von der Hauptschule zum Master in nur 38 Jahren.

Von OBEN und UNTEN, von dem was sich Jugendliche anhören müssen und von der Hauptschule zum Master in nur 38 Jahren. <br><img class="text-align: justify" src="https://bildungswissenschaftler.de/wp-content/uploads/2014/08/meinung_120.png"/>

Ja, der Text ist lang, hat nur Bilder von mir, ist wertend – also alles ist so, dass üblicherweise schon jetzt die Lust sinkt, weiterzulesen. Dennoch, wer ihn nicht liest verpasst etwas. Der folgende Beitrag liegt schon einige Zeit „im Köcher“ und gerade dieser Tage gab es erneut Anlass, ihn nun zu veröffentlichen. Immer wenn ich gefragt werde, warum ich, als jemand der doch stark für Ausbildung eintritt, „unbedingt“ noch studieren „musste“, obwohl „man Lehre und Meisterschule besucht habe“, kommt etwas Unmut in mir auf.

Ich möchte ehrlich sagen, dass ich nicht mehr glaubwürdig vor den jungen Menschen bin, wenn ich, wie früher, nur Wege in die Berufsausbildung vertrete und beispielsweise erläutere, dass man nicht studieren müsse. Denn die Jugendlichen fragen mich, warum ich es dann noch gemacht habe, „das mit dem Studieren“….Ich kann heute nur sagen, das die Studiererei sein musste. Sonst hätte ich mich nicht verwirklichen können, wie ich es wollte und habe. Dabei ist mir bewusst, dass ich es früher nicht durfte und wahrscheinlich nicht konnte – weniger wegen einem Mangel an Lernfähigkeit sondern eher, in den Strukturen nicht zurecht gekommen zu sein.  Mit 45 Jahren habe ich dann die BA Arbeit abgegeben, mit 53 Jahren die Masterarbeit. Und dann kommt sie wieder, die Frage. Gerade dieser Tage — da war sie wieder.

„Wieso hast du denn noch studiert? Ist das denn noch nötig gewesen? Du bist doch schon Meister gewesen. Warum tust du dir das noch an“. Ich bin dann immer sprachlos – dass studieren was mit „sich antun“ zu tun hat, wo doch alle studieren wollen oder meinen es zu müssen (Na gut. Ich weiß ja was gemeint ist – wobei? Wie ist es denn gemeint?). Es ist immer ein Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Keine Ahnung warum, es ist aber so. Ich bemerke immer auf’s neue, dass solche Fragen immer die stellen, die nach der Schule direkt oder relativ zügig studiert haben. Von anderen höre ich die Frage nur sehr selten – im Gegenteil. Meistens folgt der Satz: „das hätte ich auch gerne gemacht, aber…“.

Meine Gegenfrage ist dann meistens, ob ich denn ohne Studium „hier“ wäre wo ich bin – oder das täte, was ich jetzt tue? Das hilft dann ein wenig, Verständnis zu erzeugen. Gefühlt ist es aber eher mitleidig – weil man „musste ja so viel auf sich nehmen“. Meistens entwickelt sich aber ein Gespräch, häufig auch mit berufsberatenden Menschen und anderen Ratgebern. Alles engagierte Menschen, die nur das Beste für die Jugendlichen möchten – eine Ausbildung empfehlen zum Beispiel, denn die ist ja super. Da kann man richtig was mit werden. Das stimmt ja auch – allerdings eben nur relativ gesehen.

Wenn der Jugendliche dann Vorbehalte hat (vielleicht weil alle um ihn herum vorleben, dass nur ein Studium Geld bringen wird und Ausbildung eher eine Alternative ist – und die Alternative der Alternative das Handwerk beispielsweise), dann wird mancher Ratgeber richtig ratlos. „Aber das ist doch gut…., der ist gut geeignet…., es können nicht alle Häuptlinge sein….(finde ich gut, weil es den Ratgeber völlig disqualifiziert), das sind doch Wunschvorstellungen…. sowas geht gar nicht, der hat einen völligen Realitätsverlust“. Ich möchte betonen, dass es sich um Zitate handelt, die man ständig vernehmen kann – genauer gesagt, ich sehr oft höre.

Dann spreche ich gerne die Ratgeber an und frage, wie sie darauf kommen. „Warum haben Sie keine Lehre gemacht? In so einer Härterei ist es warm und gemütlich. Immer Dämmerlicht und es riecht angenehm ölig. Das ist doch prima. Können Sie sich super weiterqualifizieren. Sie brauchen nur zugreifen“. Regelmäßig kommt dann ein Stottern – so eine Art „ertappt sein“. Und dann gerne „das man ja extra das Abi gemacht hat – zum studieren. Warum sollte man weniger machen, also nicht weniger sondern qualitativ….“ oder „ich wollte immer einen Beruf machen der etwas verändert – was mit Menschen“. Antworten wie diese lassen tief blicken, denn sie machen klar, welchen Stellenwert die Ausbildung hier wirklich hat.

Wenn wir dann darüber sprechen, warum den Jugendlichen genau das nicht zugestanden wird, was man selbst als Möglichkeit hatte, erhalte ich nur selten noch eine Antwort. Das gleiche passiert, wenn ich auf irgendwelchen Veranstaltungen bin und neben jungen und mittelalten Menschen stehe (beispielsweise Personaler), die laut sagen „…dass die Jugendlichen alle Schwierigkeiten haben. Also die haben was drauf, aber nichts, was wir verwenden können“. Da kann sogar ich schon mal ärgerlich werden und frage gerne, mit welcher Begründung oder Rechtfertigung hier so eine abwertende Äußerung ausgesprochen wird. Beziehen sich eigene, möglicherweise negative Erfahrungen auf alle? Und wieder die gleiche Frage – „Was war denn mit Ihnen? Warum sind sie hier?“ Ob jemand ein Abitur gemacht hat ist nur wenig Frage einer Einzelleistung sondern eher eine Frage der Gewährung von Eltern, Gesellschaft oder Bildungssystem.

Von OBEN und UNTEN.

Diese immer wieder auftretenden Gespräche lassen mich dann wieder erkennen, dass man „so einen wie mich“ an dieser Stelle nicht erwartet. Wir leben in einem Schichtsystem. Das sehe ich so und ich weiß, dass andere das nicht so sehen, beziehungsweise es so sehen und gut finden. Wir können ja mal schauen. Die Leute sprechen immer von OBEN und UNTEN – Schichten. Unterschicht, Oberschicht. Dann gibt es noch Bildungsferne – was für eine Frechheit.

Bleiben wir mal bei dem Muster OBEN und UNTEN. Hat schon mal jemand Beschwerden von OBEN gehört, runter zu wollen und nicht gelassen zu werden? Nein. Beschwerde, nicht vorwärts zu kommen (das wird in OBEN hineininterpretiert), hört man immer von UNTEN. Vorwärts kommen heißt mehr Erfüllung, Geld, Ansehen oder auch mehr „Wahrnehmung“ zu bekommen.

OBEN hat immer eine Begründung oder Einschränkung, warum UNTEN nicht für OBEN geeignet sei oder teilnehmen sollte. OBEN bewegt sich nicht nach UNTEN, nur UNTEN bewegt sich nach OBEN – wenn sie denn von OBEN gelassen werden. Auch sind alle OBEN der Meinung, sie seien alle für OBEN geeignet. Die OBEN Eignung wird irgendwie meist am Studium festgemacht.

UNTEN scheint unbewusst zu merken, dass sie gehindert werden, nach OBEN zu gehen, ohne genau sagen zu können warum. Es macht OBEN Sorge, dass UNTEN vermehrt nach OBEN strebt….denn: Wenn alle OBEN wären – sind alle wieder UNTEN – ein neues OBEN entsteht und wer weiß, ob das jetzige OBEN wieder das neue OBEN wäre.

Würden Jugendliche zum Beispiel intensiv beraten werden, dass sie mit einer Ausbildung und ohne Abi nach OBEN kämen, würde es mehr Ausbildung geben (Klebeeffekte). Die Nichtberatung schützt OBEN. Die Sache mit dem Studieren über berufliche Qualifikation gehört auch dazu. In vielen Fällen wird nicht adäquat beraten weil das Wissen um die Bedingungen fehlt – oder man glaubt es einfach nicht, „das das sein kann“. Kein Witz.

Aristoteles 384 – 322 v. Chr. schrieb: „Immer sind es die schwächeren, die nach Recht und Gleichheit suchen. Die Stärkeren aber kümmern sich nicht darum“

Aus eigener Erfahrung möchte ich hier in meinen Augen den einzigen Unterschied zwischen Berufsausbildung und Studium nennen – er liegt in der Lehre und dem Vermitteln. In der Berufsbildung geht es deduktiv zu, heißt, Regel vorgeben und dann üben. Das ist für einige Sicherheit, für andere Langeweile. Induktiv ist hingegen Learning by doing, sich die Fragen selbst beantworten, diskutieren und Lernen über Fallbeispiele. Beides ist gleich schwer oder leicht – nur eines verleiht Machtbasis. Nicht nur das Wissen das etwas geht, sondern Warum etwas geht. Mit Bologna stimmt das aber so nicht mehr ganz – da ist das Studium eher genauso gestrickt wie eine Berufsausbildung. Wobei die sich ja eher zum induktiven entwickelt.

Hier mal ein paar Sätze aus meinem Leben, die mir so entgegen kamen:

  • 1984 Durchsage in die Werkhalle: „Mitarbeiter 1803 ins Lohnbüro“.
  • 1986 hatte ich auf die Frage, warum ich so destruktiv wäre, keine Antwort, weil ich nicht wusste, was das heißt. Ich hatte bei einem Umzug geholfen, keine Lust dazu und deswegen gemeckert.
  • 1986 wurde mir aufgrund einer Datenerfassung an einer Drehmaschine wegen überzogener Toilettenzeit Lohn abgezogen.
  • 1993 wurde mir gesagt, ich soll nicht denken, sondern nur arbeiten.
  • 1994 auf dem Arbeitsamt wurde mir nach der selbst bezahlten Meisterschule (damals über 10.000 Mark) gesagt, ich solle wieder ans Band gehen.
  • 1994 musste ich Urlaub nehmen, weil mich Gewerkschaftsmitglieder (Fabrikarbeiter wie ich) verprügeln wollten, sollte ich am Streiktag arbeiten und nicht mit deren Forderung einverstanden sein.
  • 1995 lernte ich, dass man mit effizienter Arbeit „Akkordlohn“ der anderen kaputt machen kann.
  • 1995 bekam ich als Leiharbeiter mehr Lohn als die fest Angestellten.
  • 2003 lernte ich das Wort pragmatisch kennen.
  • 2005 wurde mir von einem Professor an der Bergischen Uni gesagt, dass, bevor ich mir überlege zu studieren, die Uni erstmal überlegt, ob sie möchte, das ich dort studiere.
  • 2007 erklärte ein Fördergeber der beruflichen Bildung, dass langjährige Berufserfahrung im Arbeitsbereich keine Anrechnung mehr findet. Ich habe zu studieren (Zertifikat) oder werde entlassen.

Das sind nur ein paar Erinnerungen. Meine Stationen waren zusammengefasst – Hauptschule; Maschinenschlosser (Industrie); Maschinenbaumeister (Handwerk); Bildungsberater und Kompetenzentwickler; Bachelor  Bildungswissenschaft und Master Mediation. Das war kein Plan. Das ist anfänglicher Zufall, gepaart mit Gewährung und späterer Ausbau mit Strategie.

Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Menschen, die (unerheblich warum) mir die Möglichkeit gegeben haben, meinen Weg zu gehen. Allen voran Jochen Marquardt, der diese Zeilen leider nicht mehr lesen kann. Und Erik Schulz. Ohne die Beiden hätte ich zwei wesentliche Hürden nicht nehmen können, denn es gibt Dinge, auf die man als „vormals Fremdbestimmter“ keinen realen Einfluss hat – obwohl wir ja alle sicher sind, das jeder die Wahl hat. Ebenso danke ich der FernUni Hagen, denn ohne deren Angebote hätte das auch alles nicht geklappt. Denn trotz Meistererlass 2005 und nachfolgender Zugangsberechtigung gab es so gut wie keine Angebote für Menschen in Arbeit und mit Familie. An der FernUni hatte ich den Eindruck, dass es viel wichtiger ist zu schauen, WER das Studium erfolgreich verlässt und nicht WIE man einen Zugang verhindert. Das entspricht ja auch etwas dem Geist der Gründer – unter denen auch Johannes Rau war.

Ja der Beitrag liest sich einseitig. Vielleicht auch übertrieben. Was soll das überhaupt heißen? Engagierte Lehrer oder andere sehr gut studierte Menschen haben auch Qualitäten und sind sehr gute Menschen. Das stimmt ohne Wenn und Aber. Jeder macht die Dinge so, wie er/sie sieht und sie wichtig und richtig erscheinen. Und so ist alles was getan wird aus vielen Blickrichtungen richtig und aus anderen wiederum falsch. Es gibt keine universelle Richtigkeit. Allerdings braucht die Einseitigkeit mancher Menschen auch einen Gegenpol. So wie diesen Text.

Und jeder soll sich mit seinem Bildungsweg gut fühlen – aber dabei nie vergessen, dass andere Menschen möglicherweise nicht die gleiche Chance hatten. Und ihnen deswegen immer wieder neu mit Wertschätzung und Respekt entgegen treten. Auch wenn es zugegebenermaßen auch mir manchmal schwer fäll.

Wir können gerne darüber reden.

©2019 Achim Gilfert. Dieser Beitrag ist zur Weiterverbreitung nach den in diesem Blog veröffentlichten Regeln zum Urheberrecht veröffentlicht. Diese Regeln finden Sie hier: Urheberrechtshinweise.

2 Kommentare zu „Von OBEN und UNTEN, von dem was sich Jugendliche anhören müssen und von der Hauptschule zum Master in nur 38 Jahren.

  1. Lieber Achim,

    vielen Dank für deine offene Ausführung und deinen Willen.
    Wenn ich darf, werde ich sie als Referenzpunkt bei vergleichbaren Gesprächen verwenden.

    Herzliche Grüße
    Peter

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