Was ist der Schutzraum Schule und was bedeutet das?

Was ist der Schutzraum Schule und was bedeutet das?<br><img class="text-align: justify" src="https://bildungswissenschaftler.de/wp-content/uploads/2013/07/theorie_120.png"/><img class="text-align: justify" src="https://bildungswissenschaftler.de/wp-content/uploads/2013/07/praxis_120.png"/>

Mit Blick auf die drei Berufsbildungsmessen, die ich im Ennepe-Ruhr-Kreis mitgestalten darf, sowie einer in aller Regelmäßigkeit auftauchenden Klage, dass Jugendliche alles tun, um einen höheren Schulabschluss zu erreichen, selbst „wenn schon klar ist, dass die das nicht schaffen“ [1], kommt bei der Ursachensuche auch immer das Wort Schutzraum Schule ins Gespräch. Die Ursachen dafür, dass teilweise 9 von 10 Schüler*innen auf ein Berufskolleg oder auf andere, weiterführende oder allgemeinbildende Schulen gehen, sind unterschiedlich. Die Hoffnung auf eine finanziell gut ausgestattete Zukunft oder eine ganz individuelle Perspektive für die eigene persönliche Entwicklung sind solche Beispiele.

Eine Ursache liegt aber eben auch in dem Schutzraum Schule, den sehr viele Akteure im Übergangssystem als Begriff benutzen. Auf Nachfrage, was damit gemeint ist, wird oftmals der Aufenthalt in einem Raum mit wenig Kontakt zur „Lebenswelt der Erwachsenen“ angeführt. Es ist nachvollziehbar, was damit gemeint ist, wobei sich die Jugendlichen auch in der Schule in einer Erwachsenenwelt befinden, wie in ihrem Leben außerhalb der Schule.

Zu der oben beschriebenen Klage schauen wir einmal in Richtung einer zweiten „Bemängelung“ über die Jugendlichen – hier hinsichtlich der Fähigkeit, beispielsweise als Azubi durchzuhalten bzw. Durchhaltevermögen zu zeigen, den Anforderungen gerecht zu werden oder auch Ernsthaftigkeit und Verantwortungsbewusstsein an den Tag zu legen.

Kurz thematisieren möchte ich auch den oft gehörten Eindruck, dass „die Jugendlichen“ so seien. Die einzelnen Bemängelungen hängen stark davon ab, wo sich die Menschen bewegen. So sehen Mitarbeiter bei einem Übergangsträger sehr viele Jugendliche, denen eben ein Defizit zugewiesen wird – mal ungeachtet dessen, ob das wirklich so ist. Auf der anderen Seite kommen ja auch „vernünftige“ Jugendliche vor, aber die stehen üblicherweise nicht im Lichte der Öffentlichkeit. Daher sind die auch weniger sichtbar und irgendwie lebt jeder für sich in einer Filterblase. Wer zu dem Thema mehr wissen möchte, dem empfehle ich den Film „The Social Dilemma“.

Ein Wertemodell zur Veranschaulichung.

Jetzt schauen wir einmal, was Schutzraum Schule bedeuten kann. Dazu nutzen wir ein Wertemodell, welches seinen Ursprung in den 60/70er Jahren hat und an dem ich auch Anteil haben durfte. Normalerweise benötige ich das für andere Fragestellungen, aber es gibt hier Elemente, mit denen ich das besser veranschaulichen kann [2]. Klicken Sie auf die Tabelle für die volle Auflösung.

Die Schule findet sich in der Grafik in der blauen Zeile wieder. Schule ist ein operativ geschlossenes (soziales) System, wie viele andere auch. Es ist konformistisch geprägt und bürokratisch. Die Begriffe sind Ihnen wahrscheinlich geläufig. Allgemeiner Umstand eines bürokratischen Systems ist, dass die Menschen darin sehr genau wissen, wie die Konsequenz ihrer Handlungen aussieht.

Soziale Ausgrenzung als Höchststrafe.

Bleiben wir bei der Schule. Wer nicht konform ist, wird bestraft. Wer schwänzt bekommt einen blauen Brief, wer nicht ordentlich lernt, bekommt eine schlechte Note. Im schlimmsten Fall – wer gravierend gegen die Regeln verstößt wird sozial oder eben auch physisch ausgeschlossen. Höchststrafe. Auf der anderen Seite – wer das System lernend gut bedient, bekommt eine gute Note, eine Belohnung. Man kann ein Sternchen erhalten, wenn man etwas Besonderes erledigt hat. Wenn man das System stützt, sind einem die meisten zugewandt und soziale Anerkennung ist mit die höchste Belohnung für Menschen.

Vor dem Hintergrund des Geschriebenen dürfen wir gerne überlegen, wie es wäre, wenn Schüler*innen innovativ sind. Wenn sie querdenken (ich meine nicht Corona, sondern den seinerzeit positiven Begriff), wenn Sie Neues probieren möchten zum Beispiel: Was ist hier die Konsequenz? Ist das an Privatschulen anders? Und wenn ja, warum?

Ein bürokratisches System bietet das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle.

Natürlich haben Menschen keinerlei Kontrolle über das Leben oder andere emergenten Vorgänge – also der Zukunft. Kontrolle ist eine Illusion. Das ist aber egal, denn es kann so aussehen als gäbe es Kontrolle. Menschen können den Eindruck von Kontrolle haben. Und wer den Eindruck von Kontrolle hat, kann diesen auch verlieren. Umgangssprachlich leidet man dann unter Kontrollverlust. Menschen, die den Eindruck haben, Kontrolle zu verlieren, berichten häufig von Angst, Unsicherheit und Sorge. Sie wüssten nicht genau, was zu tun wäre und Entscheidungen sind schwerer zu treffen. Die Psychologen erklären diese Gefühle und Sorgen mit der Funktionsweise des Gehirns bzw. mit dem Zusammenspiel von Körper und Geist sowie der inneren physikalischen Kommunikationsvorgänge von Lebewesen.

Der Schutzraum, den Schule bietet, liegt daher in dem Eindruck von Kontrolle. Ich weiß Bescheid was passiert, wenn ich mich so und so verhalte. Das gibt mir Sicherheit in meinem Verhalten.

Bei der Berufsorientierung in der Schule wird die Bürokratie in Teilen (pseudomäßig) aufgehoben. Zwar sollen die Schüler schauen, wie Sie Ihren berufliche Zukunft erforschen können, aber das findet meist doch in gelenkten Bahnen statt. Das Thema Berufsorientierung ist für diesen Beitrag auch im Kontext zu umfangreich. Auf dem Blog finden Sie andere Beiträge dazu.

Wir blicken jetzt noch einmal auf unser Wertemodell. Geht die Schule zu Ende, springen die Jugendlichen üblicherweise abrupt in die orangene Zeile. Die Bürokratie wird von der Meritokratie abgelöst. Diese definiert sich durch „eine Herrschaftsform, in der Personen aufgrund ihrer gesellschaftlich bzw. institutionell anerkannten, individuellen Leistungen oder besonderer Verdienste ausgewählt werden, um führende Positionen als Herrscher, sonstige Amtsträger und Vorgesetzte zu besetzen. Im Idealfall nimmt jedes Mitglied der Gesellschaft mit dem Nachweis seines Könnens eine verdiente Position ein.“ [3]

Das System ist ebenfalls konformistisch geprägt, wobei sich aber die meisten Regeln auf Konventionen berufen und dadurch auch zu einem großen Teil wenig scharf formuliert sind. Kurzum – es ist nicht klar, was die Konsequenzen des einzelnen Handelns sind. Mit zunehmendem Lebensalter und zunehmender Lebenserfahrung wird es zwar auch nicht besser, allerdings entwickeln wir Erfahrungsstrategien und Verhaltensweisen für die Dinge. Dann ist es ein wenig einfacher, wenngleich ich sicher bin, dass jeder Leser oder jede Leserin Beispiele von Menschen kennen, die bei neuen Dingen unsicher agieren, in Sorgen kommen oder eben auch die neuen Dinge letztendlich nicht angehen.

Worte aus der Definition der Meritokratie: „Leistung, der Beste, der Könner und der Verdiente“.

In diesem beispielhaften Satz ist auf den ersten Blick gar nichts klar. Wer ist der Beste? Wo ist er der Beste und warum? Ist der Bänker ein Leistungsträger oder der Altenpfleger? Der Arbeiter an der Maschine oder die Führungskraft? Und warum? Was ist richtig? Wenn ich erledige, was jemand anders von mir möchte oder verlangt oder wenn ich etwas erledige, von dem ich meine, es ist richtig und wichtig? Wir sehen schon, dass es hier keine Klarheiten gibt.

Es braucht also Zeit, um sich zurecht zu finden und um seinen eigenen Eindruck von Kontrolle wieder zu erlangen. Der Schritt von der Schule in die Erwerbsarbeit bzw. Ausbildung passiert aber innerhalb von Tagen. Der Schritt führt aus o.g. Gründen zu Verunsicherung und Sorgen, die teilweise so groß sind, dass nicht einmal Erwachsene damit umgehen können.

Stellen Sie sich eine Frage.

Geben Sie sich eine Antwort in „Ich-Form“ und keine Antwort, wie Sie meinen, dass es zu sein hätte:

Sie haben die Möglichkeit, barrierearm und in dem Eindruck von Kontrolle und Sicherheit weiter im „Jetzt“ zu leben oder sich freiwillig der gefühlten Un-Kontrolle und einer Unsicherheit auszusetzen. Stellen Sie sich das dann aus der Wahrnehmungsposition eines jungen Menschen vor, der Ihre Erfahrungen im Leben gar nicht hat. Jemand, der keine oder nur wenige Strategien kennt, mit Unsicherheit umzugehen und bestenfalls mit hohem Selbstwertempfinden und Selbstbewusstsein sein Leben aktiv gestaltet. Was würden Sie wählen?

Der Schutzraum Schule ist die Bürokratie und der Eindruck von Sicherheit und Orientierung. Das ist für alle Jugendlichen ein Regelangebot.

Wie könnte man es anders machen? Wer den Text gelesen hat und noch ein wenig die Entwicklungspsychologie einbezieht, kennt die Zutaten. Das es geht zeigen Schulformen, meist Ersatzschulformen die ressourcenorientiert arbeiten, lehren und lernen. Hier gibt es immer wieder Kritik, dass es sich oftmals um private Initiativen handelt und das kann ja nicht jeder bezahlen. Einerseits kann man das so sehen, aber was heißt das? Da diese Ersatzschulen oder die guten Beispiele legale Einrichtungen sind und teilweise umfangreich finanziell gefördert werden, ist es kein rechtliches Problem. Es ist auch kein zeitliches Problem.

Wir reden über ein Organisations- und Haltungsproblem.

Das ist meine Kritik. Wir können uns anders organisieren und die Situation deutlich verbessern. Dafür braucht es gar nicht mehr Geld, als jetzt schon für Verbeamtung & Co ausgegeben wird. Wir benötigen eine andere Haltung, die einen Fokus auf uns Menschen hat. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir das ignorieren. Als das wir uns selbstverständlich an jede Bedingung anpassen können. Der Mensch kann viel und er kann sich stark anpassen – aber eben dort, wo es um das psychische und physische Überleben geht. Als biologische Einheit. In unserer Kunstwelt stoßen wir an Grenzen, die wir heute schon mit Technik überbrücken müssen, weil wir die Dinge nicht mehr verstehen. Wir verschieben keine Grenzen. Wir können unsere biologischen Grenzen gar nicht verschieben. Die Zunahme psychischer Krankheitsbilder ist eine Folge davon.

Das hört sich zwar alles theatralisch an, aber wenn ich darüber nachdenke, komme ich zu diesem Schluss.

Wir sollten den Schutzraum Schule erhalten, ihn aber über einen längeren Zeitraum in die Folgewelt aufgehen lassen. Dies anhand wissenschaftlicher Erkenntnis über Menschen und seine Entwicklung.

„Stellen Sie sich vor, es gäbe heute keine Schule. Mit unserem ganzen heutigen Wissen dürfen wir ein Schulsystem entwickeln. Sie können sicher sein – es würde nichts mehr von dem enthalten, was wir heute machen“ Richard David Precht

Warum verändern wir das nicht, wenn wir darum wissen? Weil dem großen System das gleiche hinterliegt, mit dem wir die Jugendlichen konfrontieren. Möglichst wenig verändern – das führt zu Unsicherheit 😉

[1] Arbeitsmarktakteure im Übergangssystem

[2] Das Wertemodell ist nicht selbsterklärend, eine Kombination aus mehreren Stufenmodellen und die zugrunde liegenden Zusammenhänge können hier nicht ausreichend Platz finden. Sollten Sie mehr über das Modell wissen möchten, sprechen Sie mich bitte an, da das Modell auch sehr kritisch betrachtet werden kann (und auch wird).

[3] Meritokratie

©2022 Achim Gilfert. Dieser Beitrag ist zur Weiterverbreitung nach den in diesem Blog veröffentlichten Regeln zum Urheberrecht veröffentlicht. Diese Regeln finden Sie hier: Urheberrechtshinweise.

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