Digitale Bildung – ein Spannungsfeld zwischen Menschenverachtung und Chance
Nach meiner Teilnahme am 2017er Mobile Learning Day der Fernuni Hagen möchte ich über Aspekte digitaler Bildung schreiben – intensiver als wir normalerweise diskutieren. Die Keynote hielt Prof. Dr. Christoph Igel vom Educational Technology Lab am Deutschen Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz. Auf einmal stand nicht die Frage von Mobile Learning im Vordergrund, sondern Fragen von Macht, Herrschaft und auch Fluch und Segen digitaler Bildung. Es ging nicht um digitale Bildungsverfahren – also die Nutzung von digitaler Technik in der Bildung -, sondern um digitale Bildungssysteme. Auch die ganze Diskussion um das Schlagwort 4.0 strich der Professor mit einigen Sätze weg – denn 4.0 ist eher Marketingaspekt. Die digitalen Systeme an sich sind alt und es gibt sie schon lange. „Echtes“ 4.0 ist die Vernetzung untereinander (z.B. Internet der Dinge) – und selbst das ist noch nicht das, worüber wir nun sprechen.
Einer unter den zehn Top Punkten der Strategie des Bundesministeriums für Wirtschaft (BMWI) für die nächsten zehn Jahre ist die digitale Bildung. Es soll hierbei auch ein Kernproblem mit künstlicher Intelligenz (KI) angegangen werden. Nämlich die Interpretation von Daten. Die vorliegenden Daten, die über technologische Systeme erfasst und erzeugt werden sind unstrukturiert. Wir versuchen nun Muster in diesen unstrukturierten Daten zu erkennen. Wenn die Muster abweichen oder Muster überhaupt erkennbar werden, dann versucht der Mensch diese mit Kognition und Kreativität zu bewerten – zu interpretieren. Die Maschine kann das nicht. Egal wie kreativ manche KI Systeme aussehen – sie rechnen nur und das in unfassbar schneller Abfolge. Der Mensch kann dies nicht mehr erfassen und daher erscheinen die Maschinen „intelligent“. Nun soll die KI dahingehend weiterentwickelt werden zu verstehen. In Datenmustern einen Sinn zu erkennen oder diesen einen Sinn zu geben. Dies versucht man über die Verrechnung der Daten durch autonome Systeme.
Das bedeutet, dass Hochtechnologie zur Datenerzeugung genutzt wird und Hochtechnologie zur Interpretation dieser Daten. Der Grund dafür ist unter anderem der, dass wir Menschen nicht mehr in der Lage sind, diese Daten und Vernetzungen zu verstehen. Hier sind die Menschen begrenzt (siehe dazu den Beitrag auf diesem Blog) . Da es aber nun einen „Zwischenhändler“ gibt, sind die Menschen von den Datenerzeugunsmechanismen abgekoppelt. Was das bedeuten kann erläutert Stephen Hawking zum Beispiel hier.
Was hat das alles mit digitaler Bildung zu tun? Ein Beispiel wäre das Digitalisieren von Erfahrungswissen. Das ist heute kaum möglich. Die individuelle Bildung lässt sich optimieren – so ein weiterer Ansatz der Forscher. Und dann kann man noch das Folgende machen. Ich berichte hier über ein reales Beispiel, welches die deutschen Forscher in China durchführen, und welches durch den Referenten erklärt wurde. Warum in China – dazu später mehr.
Die Formel lautet – Deep Learning + Big Data = Optimierte Bildung
An 100 Schulen in China forscht das DFKI. Hierbei erfassen sie unter anderem mit Hilfe von Kameras das Verhalten, Emotionen und auch das Aufmerksamkeitspotential von Schülern wie auch der Lehrer. Ein KI System versucht zu erfassen, wenn Aufmerksamkeitsgrade abweichen oder Ablenkungen stattfinden. Daraufhin wird als Reaktion der Lerninhalt über die Bildschirme verändert, bis sich der Aufmerksamkeitsgrad wieder „normalisiert“. Methodik und Didaktik kann in Echtzeit angepasst werden.
Gleiches passiert beim Lehrer. Seine Lehrertätigkeit wird erfasst und die Lehrmethodik kann über ein Feedback angepasst werden. Nebenbei sendet das System am Abend eine Mail an den Schulleiter, welche Performance der Lehrer gezeigt hat und den Eltern eine Mail, wie sich die Kinder in der Schule verhalten haben. Zu seinem Vortrag spielte der Professor Videobilder ein, die diese Vorgänge zeigen. Man konnte alle Gesichter sehen und wie sie mit Facetracking dauerhaft gescannt wurden (Ähnlich dem Citizen Tracking in China, welches dort schon längst Alltag ist. Hier ein Video zur Veranschaulichung dazu).
Es raunte nun im Saal und ich gestehe mein Mitraunen ein. Prof. Igel erklärte von sich aus auch den Grund der deutschen Aktivitäten in China. Da behindern keine Datenschutzregeln oder Persönlichkeitsrechte die Forschung. Außerdem sind die Chinesen in den Schulklassen sehr diszipliniert. Anders als in Deutschland. Hier wäre KI so nicht einsetzbar. Im Weiteren sprach er darüber, dass es in Deutschland auch Experimentalräume gibt, in welchen gesetzliche Regularien außer Kraft gesetzt werden. Mehr ließe sich nicht von der deutschen Politik abringen. Zum Beispiel in Projekten – jedoch nur unter der Zustimmung von Mitarbeitern. Als Beispiel nannte er Airbus in Hamburg, die so etwas tun. Dabei wurde ein Jahr mit dem Betriebsrat verhandelt – und dann haben alle zugestimmt.
Hier ergab sich dann die Frage, wie freiwillig eine Zustimmung ist, wenn der Arbeitgeber darum bittet. Ein anderer Teilnehmer benannte die Mitbestimmungsfrage als AGB Modell, welches viel zu anfällig für Missbrauch sei. Der Referent verwies darauf, dass man nur forsche. Wie die Gesellschaft damit umgehe, ist eine andere Frage. Wissenschaft und Forschung wird auch hier von der Gesellschaft abgekoppelt. Es scheint also so zu sein, dass auch wir Deutschen in China nun diese Technologien ohne Beschränkungen entwickeln können um sie denn fertig zu haben, wenn in Deutschland irgendwann die Datenschutzregeln weiter aufweichen. Oder diese einfach auch gar nicht notwendig sind, weil man über nichtdeutsche Wege die Technologie in deutschen Einrichtungen einsetzen kann. Das hat schon etwas Bitteres.
Was kann das alles heißen? Die gesellschaftlichen Steuerleute werden weiter zunehmend durch die Wirtschaft gestellt. Die Politik wird es wahrscheinlich aufgreifen, weil es so attraktiv und kontrollierbar ist. Man verspricht sich Systeme, die klarer in „Passt oder Passt nicht“ klassifizieren. Die Technologie wird zum Menschenbenutzer. Der Mensch wird „maschinisiert“ und noch mehr Teil eines technischen Systems. Im Grunde sind es die gleichen Bedenken seit Beginn der Industrialisierung. Auch die Frage, ob die Technik dem Mensch dienen soll, oder umgekehrt.
Was sich hier ändert ist aber die Qualität der Disqualifizierung des Menschseins. Wir machen uns als Menschen an sich überflüssig.
Ist Digitale Bildung nun eine Chance für den Menschen und seine Bildung? Oder ist es nur die Chance für den Wettbewerb globaler Industrien? Wer bezahlt am Ende womit für das Ganze?
Und reden wir hier überhaupt noch von Bildung? Was ist Bildung überhaupt. Damit man sich das einmal kar machen kann werde ich einen der nächsten Beiträge dieser Frage widmen. Und dann werden wir feststellen, dass wir hier über alles reden – nur nicht über Bildung.
Die Veranstaltung wurde komplett aufgezeichnet und wird demnächst von der Ferununi in Hagen im Netz zur Verfügung gestellt. Hier ist die Aufzeichnung der Keynote. Sehen Sie selbst.
©2017 Achim Gilfert. Dieser Beitrag ist zur Weiterverbreitung nach den in diesem Blog veröffentlichten Regeln zum Urheberrecht veröffentlicht. Diese Regeln finden Sie hier: Urheberrechtshinweise.
Hallo Achim,
alle Achtung, toller Kommentar, sachlich und gut gschrieben – und mit einem sicheren Gefühl für das was da läuft. Recht hat er! Es wird soviel unter Bildung verkauft und versteckt – aber das ist keine Bildung.
Danke für den Kommentar an Klaus Meschede, den ich für ihn hier einstelle. Er sagt:
„Die Kritik ist sicher berechtigt: Alles, was unter Learning Analytics oder Personalized Learning läuft, ist hochgradig verdächtig, nur eine neue Variante von Konditionierung zu sein. Von diesem Ansatz muss aber aber die fortschrittliche Richtung trennen, die unter Personal Learning in Form von Digital Enhanced Learning läuft. Hier treffen sich die alten Wege von Reformpädagogik (Dewey, Illich, Freire u.a.) und die neuen Möglichkeiten durch Digitalisierung (Networking, Kollektive Intelligenz, Zusammenarbeit von Mensch und Maschine, Parallelisierung von Big Data und Thick Data etc.). Meine erste Adresse für solche Themen“: Pierre Lévy https://pierrelevyblog.com/2017/10/06/the-next-platform/