Bertelsmann-Stiftung: Studie weist auf Überforderung in der Berufsorientierung hin. Eine gute Sache, sich bei den Betroffenen selbst umzuhören
So. Nun endlich haben sich die Studienverantwortlichen bei ihren Befragungen zur Berufsorientieung (3. Corona Jahr) mit den Jugendlichen hingesetzt. Und was kommt dabei raus? Überforderungstendenzen bei Jugendlichen. Ich sag mal „endlich“ nicht nur erkannt, sondern auch „benannt“! Das motiviert mich, am Abend noch diesen Beitrag zu schreiben.
Die kurze, hier zitierte Schlussfolgerung lautet in der Studie:
„Für gelingende Berufsorientierung ist eine gute Mischung aus Begleitung und Selbstlernen sowie Praxis wichtig. Nur digital funktioniert berufliche Orientierung nicht. Jugendliche wünschen und brauchen das persönliche Gespräch, um Informationen zu reflektieren und einzuordnen. Denn nicht alle verfügen in gleichem Maße z. B. über die Fähigkeit und die Sicherheit, sich zu einer selbstständigen Recherche zu motivieren, die eigenen Fragen beharrlich zu verfolgen und dabei komplexe Informationen zu verarbeiten. Der Zusammenhang zwischen dem eigenen überfachlichen Kompetenzerleben und der Zuversicht, sich beruflich gut orientieren zu können, weist einmal mehr darauf hin, dass die Berufsorientierungs angebote zielgruppengerecht aufbereitet sein müssen. Im Kern spielen eben nicht nur die fachlichen, sondern ebenso die überfachlichen Kompetenzen eine Rolle – für die Berufsorientierung ebenso wie für das spätere Berufsleben.“
„Nur digital funktioniert berufliche Orientierung nicht“ – ein Paukenschlag und durch die Befragung der eigentlich Betroffenen eine richtige Schlussfolgerung, bei der ich anmerken möchte, dass man dies seit vielen Jahren weiß. Man bedenke, seit wie vielen Jahren etliche Milliarden Euro pro Jahr in das Übergangssystem und in unzählige Porjekte fließen, die mindestens ein digitales Produkt erstellen sollen.
Wer sich den Einfluss der Bertelsman-Stiftung in der Politik in Fragen der Bildung anschaut weiß, dass die Diagnose am Ende nun angekommen ist und Auswirkungen auf Förderinstrumente und Maßnahmen haben wird. Das ist erstmal gut und wichtig. Ich möchte auf die Studie selbst nicht weiter eingehen, sondern empfehle jedem Interessierten, sich das kurze Papier durchzulesen. Sie finden die Studie zum Download hier. Spannend finde ich persönlich in einer Grafik den Hinweis, dass die Inanspruchnahme von Beratung durch die Bundesagentur für Arbeit oder das Jobcenter in Verbindung mit einer „Bildungsferne“ in Verbindung gebracht wird. Aber theoretisch ist auch dieser Befund keine Überraschung. Eine kleine Sache ist mir aber doch aufgefallen – in der Überschrift heißt es: „Trotz Digitalisierung: die wichtigsten Informationsquellen sind immer noch Menschen„. Man beachte das „immer noch“. Ich kann nur sagen – es wird immer so bleiben, da dies an die „Arbeitsweise“ unseres Gehirns gekoppelt ist.
Was die Studie allerdings nicht wiedergibt sind die Hintergründe, die zu diesen Überforderungen führen. Diese sind aber der Schlüssel für eine Veränderung – sodass ich das hier gerne aufschreibe:
Der Grund für Überforderung
Das was der Überforderung und den in der Studie beschriebenen Umständen zugrunde liegt ist der Effekt der Multioption. In diesem Blog gibt es mehrere Beiträge dazu – wer also mehr dazu wissen möchte, kann z.B. hier oder hier gerne nachschauen. Dieser Effekt verursacht Unorientierung, Angst, Sorge und Unsicherheit – also das komplette Gegenteil von dem, was gewünscht ist. Peter Groß veröffentlichte bereits 1994 ein Buch mit dem Titel „Die Multioptionsgesellschaft“, in welchem er die Effekte in großer Ausführlichkeit beschrieb.
Der Grund für die unerwünschten und belastenden Effekte ist die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Dieses wird durch die Unzahl an Informationen sowie eine immer weiter steigende Komplexität überfordert. Selbst gut strukturiert sind es einfach zu viele Informationen und wenn dies noch von Menschen mit einer „Wichtigkeit“ verbunden werden (z.B. ich mus mich für meine Zukunft entscheiden), dann fährt das Gehirn, vereinfacht gesagt, die Strukturen für das rationale Denken herunter und aktiviert über Botenstoffe den Arousal-Level des zentralen Nervensystems – es geht also nur noch um Überlebenswichtiges für das System Mensch. Damit kommt das Gehirn seiner einzigen Aufgabe im Körper nach – Überlebensfähigkeit und Handlung ohne viel Nachdenken (Weglaufen vom Mammut). Jede andere Aufgabe ist eine von uns zugewiesene Aufgabe für das Gehirn und rational veranlagt. Das ist sehr vereinfacht ausgedrückt aber so kann man sich das leichter vorstellen.
Es ist dabei egal ist ob man das will oder nicht – und für viele erstaunlich: Das gilt auch für Erwachsene. Einzig der Unterschied der kindlichen/jugendlichen Struktur des Gehirns zum Erwachsenen ermöglicht dem Erwachsenen die Anwendung von selbst erdachten Strategien. Aber auch die geraten schnell an Grenzen, wie sicher jeder schon bei sich beobachten konnte. Um die Komplexität zu reduzieren versuchen wir nun, diese beispielsweise durch digitale Systeme zu reduzieren (Ausbildungsfinder/Berufsorientierungswebseiten, Videos, Berichte und viele Inhalte). Was wir noch machen ist, digitale Handler zu erstellen, die uns die Komplexität erfassbar machen. Mit gleichem Effekt und mehr noch:
Wir verstehen zwar „was“ ist, aber nicht „warum“ etwas ist. Wir koppeln uns von dem „Warum“ ab.
Die Beantwortung einer Sinnfrage wie sie in Fragen der Berufsorientierung (begründete Berufswahl) vorkommt, muss mit dem Verstehen und dem Warum gekoppelt sein. Sonst kann es keine Antwort auf die Sinnfrrage geben. Und hier kommt die Berufsorientierung, wie sie heute gestaltet ist, an die Grenzen, die als Studienergebnis vorliegen. Wer mehr dazu wissen möchte, kann z.B. hier nachschauen.
Der Weg liegt, wie von den Studienautoren vorgeschlagen, in persönlichen Gesprächen, die den Jugendlichen das Verstehen und ein Verständnis ermöglichen um eine Sinnfrage zu beantworten. Der Umgang mit den Informationen ist dabei der Schlüssel.
Es ist nicht die Information selbst zu vermitteln, sondern wie man mit Informationen umgeht.
Die Umsetzung ist relativ simpel und didaktisch einfach umsetzbar, sofern entsprechend qualifiziertes Personal unterwegs ist. Und dies insbesondere bei der Agentur für Arbeit und den Jobcentern – aber natürlich auch bei allen anderen beauftragten Institutionen. Dazu möchte ich alle ermutigen. Weitere theoretische Grundlagen die helfen, dieses Thema in seinem Kern zu betrachten, finden Sie in meinem Buch, welches Physik und Kommunikation über einen vereinfachten Ausdruck eines Energieerhaltungssatzes zusammenbringt. Informationen finden Sie hier und hier. Weiter lege ich allen Interessierten nahe, sich die Beiträge in dem Blog anzuschauen. Eine kostenfreie Quelle für Informationen zum Thema bieten die Publikationen der Förderreihe JOBSTARTER. Praktisch in jedem Projekt seit 2005 werden entsprechende Hinweise veröffentlicht. Das mal außerhalb der „Wissenschaft“. Infos und Publikationen finden sich hier.
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Ist „digitale Berufsorientierung“ genauer definiert? Ich persönlich bin der Meinung, dass es sinnvoll ist, unterschiedliche Formate zu mischen. Mit Jugendlichen mit dem Föderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung habe ich z.B. positive Erfahrungen mit Video-Gesprächen gemacht. Die digitale Umgebung hat die Sorge vor dem persönlichen Gespräch gemildert, die Hürde war kleiner, das Gespräch konnte in einer gewohnten Umgebung stattfinden. Digitale Berufsorientierung bietet also auch Chancen. Eine weitere (provokante) Frage: während des Lockdowns gab es die Auswahl zwischen KEINER Berufsorientierung und digitaler Berufsorientierung. Funktioniert keine Berufsorientierung besser??
Eine gute Frage, die (so nehme ich an) im Rahmen weitergehender Bearbeitung durch die Bertelsmann-Stiftung bearbeitet wird – oder auch von anderen. Wie bei allem denke ich, sind Kombinationen am Ende wichtig um alle zu erreichen.
Menschlich Sozialierung bedarf immer der individuellen Identitätsbildung und eines kollektiven sozialen Werterahmens. Wenn Religion, Ständegesellschaft, Absolutismus oder zumindest der ideologische Gegensatz von Markt- und Zentralverwaltungswirtschaft nicht mehr funktionieren, dann hilft uns die Hirnforschung als getarnte Sozialwissenschaft auch nicht weiter. Oder das Gehirn funktioniert unter verschiedenen sozialen Systemen anders, eine Art kognitive Epigenetik. Das ist mir aber nicht bekannt. Empirisch zu prüfen wäre, ob die Beschreibung der oben genannten Phänomäne der Berufswahlorientierung nicht eine Teilmenge einer allgemeinen gesellschaftlichen Zustandsbeschreibung ist. Und dann wären wir bei Themen wie „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (Popper), „Risikogesellschaft“ (Beck) oder ganz allgemein bei soziologischen systemtheoretischen Konzepten der Beschreibung von menschlichen Gesellschaften. Von der Zunahmen von Komplexität, zeitlicher Dynamik und räumlicher Entgrenzung sowie Mediatisierung/Informatisierung sozialer Kommunikation sind auch ältere Menschen wie ich betroffen.
Vielen Dank für die sehr interessante und wichtige Ergänzung bzw. Anmerkung. Die Intention meines Beitrags liegt in der Thematisierung punktueller und in der Praxis oftmals unbekannter Sachverhalte, die nur zu oft durch eine einseitige Berichterstattung unsichtbar werden. Ich würde die Einschätzung auf jeden Fall teilen, dass es sich um Teilmengen einer allgemeinen Zustandsbeschreibung handelt und sicher das eine nicht ohne das andere kann. Auch die Hirnforschung sollte hier nicht als Ersatz dienen – nicht mal im Ansatz, sondern es ist ein Versuch einer möglichst einfachen Erläuterung für Menschen, die sich nicht jeden Tag oder häufig in diesen Themen bewegen, wohl aber z.B. als Angestellte in Fördermaßnahmen oder in Beratungsorganisationen unterwegs sind. Mein Ziel ist eine möglichst praktische Erweiterung von Perspektiven eben jeder Menschen, die beispielsweise im Arbeitsalltag und auf unwissenschaftlicher Ebene in dem Thema unterwegs sind. Das sind (als Beispiel) diejenigen, die Maßnahmen und Förderprojekte mit den Jugendlichen vor Ort praktisch umsetzen sollen.